Komplett durch-ge-russt

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buecherwurm Avatar

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Zentrales Thema ist die pro-russische Gesinnung der Mutter des in Kiew geborenen Ich-Erzählers. Seine Perspektive bleibt durchgehend die einzige, ungewöhnlich für Neuerscheinungen.
Wir lesen hier die anekdotenreiche und zugleich feinfühlige Bestandsaufnahme einer jüdischen Kontingentflüchtlingsfamilie von den 90ern bis heute.
Der Roman besteht aus zwei Teilen. Der erste ist deutlich ausschweifender, sehr humorvoll, gespickt mit viel Ost-algie. Der zweite, direkt aus dem Kriegsgebiet, ging mir sehr nah, dennoch hochinteressant.
Der Protagonist beherrscht die russische Sprache, nicht aber das angesichts der Lage angemessenere Ukrainisch.
Die Aktualität des Themas lässt einem das berüchtigte Blut in den Adern gefrieren.
Sogar für die Motive der Putin-Anhängerin gibt es den Versuch einer Erklärung.
Der Autor dieses sehr originell fishy erscheinenden Buches ist ein Meister der Wortspielereien. Er kreiert eine sprachliche Neuschöpfung nach der anderen, spart aber auch nicht an gekonnt eingesetzten Wiederholungen. Es gelingt ihm zum Beispiel, das Adjektiv russisch bis zu sieben mal in einem Absatz unterzubringen. Der Handlungsstrang selbst wirkt ziemlich reduziert, die hin und zurück schwingenden Zeitebenen lassen sich manchmal nicht sofort voneinander trennen.
Mich hat dieser Schreibstil zunächst begeistert, zur Mitte hin auch etwas angestrengt. Der zweite Teil ist meiner Ansicht nach der stärkere, lebendig und mitreißend. Der Humor tritt nun zu Recht in den Hintergrund.
In dieser innovativen Form offenbaren sich Inhalte, die Westeuropa größtenteils so noch nicht wahrgenommen hat, trotz aller Berichterstattungen über Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Leser, denen die politische Debatte über den Krieg nicht genügt, erhalten mit diesem Roman die Chance, die Mentalität der Ukrainer etwas besser kennenzulernen.