Sprache und Zugehörigkeit

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downey_jr Avatar

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Dimitrij Kapitelmann erzählt in seinem aktuellen Roman die Geschichte einer Familie, die in Leipzig ein Geschäft für russische Spezialitäten hat. Neben Wodka und Pelmeni gibt es hier auch eine Art Zugehörigkeitsgefühl für Osteuropäer*innen.
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine ist das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und seiner Mutter schwierig, denn die Mutter steht auf Putins Seite; glaubt alles, was das russische Fernsehen zeigt.

"In der russischen Welt meiner Mutter ist Russland gut und heldenhaft und hat gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Herzlos ist das nicht von ihr, nur sehr wahrheitsverloren. Deswegen leidet Mama wohl auch so sehr darunter, dass ihr Sohn diese russischen Wahrheiten aufs Verderben nicht erkennen will. Sie fühlt sich missverstanden und zu Unrecht als russischer Unmensch verurteilt. Mir bleibt nur, weiter die Grenze zur Gewalt aufrechtzuerhalten, auch vor ihr. Und beim Abendessen selektiv auf den russisch ungefährlichen Bildschirm zu schauen. Aber Selbstbetrug ist eben auch Arbeit, die kein anderer für dich macht. Mama stopft sich noch eine Zigarette."

"Ich schaue zu Mama. Wie ängstlich muss man sein, um die Welt nur aus dieser totalitären fernsehrussischen Sicht betrachten zu wollen? Wie schwach? Denn das ist Gewalt im Kern immer: Schwäche."

Das Verhältnis ihres Sohnes zu ihr sowie zu seiner geliebten russischen Sprache wird auf eine schwere Probe gestellt.

"Aber was heißt schon ‚außer‘ Sprache? Seit diesem Krieg weiß ich überhaupt nicht, was Sprache eigentlich ist. Was sie soll. Was sie will. Was sie kann. Ob sie gehört, wem sie gehört, wohin sie gehört. Wie sehr Sprache der Zeit hörig ist.
Mein Verhältnis zur Sprache meiner Mutter, meiner Mutter-Sprache, war nicht immer so entmündigend politisch. Es gab Zeiten, da waren die Wörter zwischen uns treue Boten des Vertrauens. Nicht undurchsichtige Vertreter von Zusammengehörigkeit oder ewiger Trennung. Von Unschuld und Kriegsverbrechen, Leben und Tod letztlich."

Mitten im Krieg unternimmt er eine Reise in die Ukraine, um seine Mutter zur Vernunft zu bringen. Ist das eine kluge Idee?

"Das Licht geht aus, mein Handy hat aber weiter Empfang. Mama schreibt: 'Ja, es besteht ja auch gar keine richtige Gefahr. Russland beschießt ja ausschließlich militärische Ziele.'
Sowjetischer Leim ist offensichtlich wirklich dicker als Blut. Falls diese Reise in die vom Krieg übersäte Ukraine ein unbewusster Versuch war, Mama von den russischen Lügen zurückzubekommen, dann ist er gescheitert."

Dimitrij Kapitelmann hat einen gleichermaßen unterhaltsamen wie nachdenklich stimmenden Roman über Familie, Sprache und Herkunft geschrieben. Besonders die Abschnitte über seine Liebe zur russischen sprache fand ich sehr gelungen.

"Wenn wir beide miteinander reden, fühlt es sich manchmal so an, als wäre uns nur noch die gemeinsame russische Sprache geblieben. Dabei waren wir noch nie weiter von einer gemeinsamen russischen Sprache entfernt. Und dennoch habe ich fast anderthalb Stunden an meinem russischen Sprachinhalator gehangen, bevor ich zu Besuch kam. Und gelesen. Nach etwa einem Jahr Invasion beschloss ich, trotz des russischen Terrors täglich genauso viele Seiten russischer Literatur zu lesen, wie ich Lebensjahre zähle. Aktuell also 36 Seiten täglich. Um etwas, das ich gar nicht näher bestimmen kann, nicht an die Vergangenheit zu verlieren. Möglichst halblaut, damit ich meine Mutter-Sprache von mir selbst höre. Nicht von meiner Mutter. Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir und liebe sie doch, bei aller Schuld. Neben aus der Ukraine geflohenen Menschen stehe ich stumm wie ein Baumstumpf. Zumindest bis ich einige von ihnen ebenfalls Russisch sprechen höre."

"Doch die Angst vor fehlenden russischen Wörtern werde ich wohl nie loswerden.
Auch deshalb versuche ich, stolz zu sein auf die russischen Wörter, die mir nicht fehlen. Die russische Sprache wird den russischen Präsidenten überleben. Wenn er schon lange in seinem hässlichen Massenmördergrab verfault. Dann könnten die russischen Wörter, die mir nicht fehlen, noch für vieles gut sein. Zumindest hoffe ich das."

Ansonsten passiert zugegebenermaßen nicht allzu viel in dem Roman, es sind mehr Alltäglichkeiten, das mag vermutlich nicht jede*r. Ich fand den Roman größtenteils sehr gelungen.

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars über NetGalley. Die hier geäußerte Meinung ist meine eigene.