Zerrissen zwischen der Liebe zur Mutter und den eigenen Prinzipien
Dmitrij Kapitelmans neues Buch "Russische Spezialitäten" macht nachdenklich, sehr, sehr nachdenklich. Über die Zeiten, in denen wir gerade leben. Über Desinformation, der doch so viel Glauben geschenkt wird und gegen die selbst Fakten und eigene Erfahrungen nicht ankommen.
In diesem sehr persönlichen, vermutlich autofiktionalen Roman, lernen wir den Ich-Erzähler kennen, der mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Leipzig lebt. Geboren ist der Autor in Kyjiw, hat dort aber nur wenige Jahre gelebt, bevor er gemeinsam mit den Eltern in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen ist. Russisch ist die gemeinsame Mutter-Sprache der Familie, die Mutter ist ursprünglich in Sibirien geboren, hat dann ihre Kindheit in Moldawien verbracht und ist schließlich in die Ukraine gezogen, während der Vater jüdisch ist. Geschäftstüchtig haben die Eltern in Leipzig einen Laden für russische und ukrainische Spezialitäten aufgemacht und betreiben diesen 25 Jahre lang, auch der Sohn hilft dort aus. Der Laden ist auch ein Treffpunkt für die ukrainisch-russisch-jüdische Diaspora in Leipzig... bis er 2020 im Zuge der Coronakrise geschlossen wird.
Das Buch ist zweigeteilt, im ersten Teil geht es um den Alltag der Familie rund um diesen Laden. Im zweiten Teil reist der Ich-Erzähler in der heutigen Zeit, also schon während des tobenden Ukrainekrieges, in seine Geburtsstadt Kyjiw. Er möchte alte Bekannte treffen und ein paar Besorgungen machen, aber vor allem will er sich ein eigenes Bild der Lage dort machen und seine Mutter davon überzeugen, dass ihre von den russischen Propagandamedien geprägte Sicht der Dinge nicht stimmt.
Dieses Unterfangen wird leider erfolglos bleiben, zumindest an der Oberfläche. Die Mutter beruhigt den Sohn, ihm werde dort als Zivilist nichts passieren, denn Russland, das die Ukraine von bösen Mächten befreien wolle, beschieße ausschließlich militärische Ziele. Vielleicht beruhigt sie sich damit aber auch selbst, denn nach der Rückkehr des Sohnes aus der Ukraine gibt sie doch zu, wie erleichtert sie ist, dass er wohlbehalten heimgekehrt ist. Und wer weiß, vielleicht bringen die Erzählungen des Sohnes - er spricht mit vielen ukrainischen Freunden und Bekannten, muss selbst bei Bombenalarm in den Schutzbunker des Hotels, in dem er dort wohnt, und besucht auch selbst die Orte der Massaker wie z.B. Butscha, ihr nur von den russischen Medien geprägtes, verzerrtes Weltbild ja doch ein bisschen ins Wanken.
Es ist ein großartiger Roman, dem es gelingt, die Zerrissenheit des Autors zu zeigen: zwischen der tiefen Liebe zu seiner Mutter und seiner Fassungslosigkeit darüber, wie sehr sie ins Netz der russischen Propaganda geraten ist und noch die absurdesten Lügen über den Krieg nicht nur glaubt, sondern auch überzeugt weitererzählt. Damit zeigt der Autor auch etwas Bemerkenswertes auf: wie es möglich ist, mit den uns lieben Menschen in Verbindung zu bleiben, ohne all ihre Meinungen zu teilen... und wie wir Stück für Stück versuchen können, diese zu hinterfragen und unser Gegenüber zum Nachdenken zu bringen.
Auch sonst lernt man durch dieses Buch viel Interessantes, Berührendes und Nachdenklich-Machendes über die Ukraine heutzutage: über junge Männer, die nach nur wenigen Wochen im Krieg völlig verstümmelt zurückkehren, auf der Straße betteln und von fast allen ignoriert werden... über nicht mehr sehr fitte 50-jährige, die fürchten müssen, zwangsrekrutiert zu werden... über Mariupol, das dem Erdboden gleichgemacht wurde... und über Menschen in der Ukraine, für die Russisch bisher die Muttersprache war und die nun bewusst aus Abscheu vor dem russischen Aggressionskrieg und aus Solidarität mit der als Heimat angesehenen Ukraine Ukrainisch lernen und ihre Kinder in dieser Sprache aufziehen möchten.
Nachdenklich machen auch die Privilegien, die ein deutscher oder österreichischer Pass nach wie vor verleiht... nur dieser - und die Tatsache, dass er zusätzlich keinen ukrainischen Pass mehr besitzt - macht es dem Ich-Erzähler möglich, während des Krieges als junger Mann nicht nur in die Ukraine einreisen, sondern auch wieder ausreisen zu können, ohne zwangsrekrutiert zu werden.
Ja, dieses Buch macht sehr nachdenklich. Über das Glück des Zufalls und der Geburtslotterie, das es immer noch bedeutet, in Mitteleuropa zu leben, wo es (bis jetzt) keinen Krieg gibt. Über die Schrecken des Krieges, über Propagandageschichten und die, die auf diese hereinfallen (davon gibt es ja leider auch in Mitteleuropa genug Menschen, und nicht nur russischstämmige). Über die Verbindungen zwischen einzelnen Menschen, die wir uns nicht nehmen lassen müssen. Und über den Mut, für das einzustehen, was wir als wahr erkannt haben.
Ein großartiges Buch, ein wichtiges Buch, gleichzeitig humorvoll und spannend geschrieben: Leseempfehlung für alle, die am aktuellen Zeitgeschehen in Europa interessiert sind!
In diesem sehr persönlichen, vermutlich autofiktionalen Roman, lernen wir den Ich-Erzähler kennen, der mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Leipzig lebt. Geboren ist der Autor in Kyjiw, hat dort aber nur wenige Jahre gelebt, bevor er gemeinsam mit den Eltern in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen ist. Russisch ist die gemeinsame Mutter-Sprache der Familie, die Mutter ist ursprünglich in Sibirien geboren, hat dann ihre Kindheit in Moldawien verbracht und ist schließlich in die Ukraine gezogen, während der Vater jüdisch ist. Geschäftstüchtig haben die Eltern in Leipzig einen Laden für russische und ukrainische Spezialitäten aufgemacht und betreiben diesen 25 Jahre lang, auch der Sohn hilft dort aus. Der Laden ist auch ein Treffpunkt für die ukrainisch-russisch-jüdische Diaspora in Leipzig... bis er 2020 im Zuge der Coronakrise geschlossen wird.
Das Buch ist zweigeteilt, im ersten Teil geht es um den Alltag der Familie rund um diesen Laden. Im zweiten Teil reist der Ich-Erzähler in der heutigen Zeit, also schon während des tobenden Ukrainekrieges, in seine Geburtsstadt Kyjiw. Er möchte alte Bekannte treffen und ein paar Besorgungen machen, aber vor allem will er sich ein eigenes Bild der Lage dort machen und seine Mutter davon überzeugen, dass ihre von den russischen Propagandamedien geprägte Sicht der Dinge nicht stimmt.
Dieses Unterfangen wird leider erfolglos bleiben, zumindest an der Oberfläche. Die Mutter beruhigt den Sohn, ihm werde dort als Zivilist nichts passieren, denn Russland, das die Ukraine von bösen Mächten befreien wolle, beschieße ausschließlich militärische Ziele. Vielleicht beruhigt sie sich damit aber auch selbst, denn nach der Rückkehr des Sohnes aus der Ukraine gibt sie doch zu, wie erleichtert sie ist, dass er wohlbehalten heimgekehrt ist. Und wer weiß, vielleicht bringen die Erzählungen des Sohnes - er spricht mit vielen ukrainischen Freunden und Bekannten, muss selbst bei Bombenalarm in den Schutzbunker des Hotels, in dem er dort wohnt, und besucht auch selbst die Orte der Massaker wie z.B. Butscha, ihr nur von den russischen Medien geprägtes, verzerrtes Weltbild ja doch ein bisschen ins Wanken.
Es ist ein großartiger Roman, dem es gelingt, die Zerrissenheit des Autors zu zeigen: zwischen der tiefen Liebe zu seiner Mutter und seiner Fassungslosigkeit darüber, wie sehr sie ins Netz der russischen Propaganda geraten ist und noch die absurdesten Lügen über den Krieg nicht nur glaubt, sondern auch überzeugt weitererzählt. Damit zeigt der Autor auch etwas Bemerkenswertes auf: wie es möglich ist, mit den uns lieben Menschen in Verbindung zu bleiben, ohne all ihre Meinungen zu teilen... und wie wir Stück für Stück versuchen können, diese zu hinterfragen und unser Gegenüber zum Nachdenken zu bringen.
Auch sonst lernt man durch dieses Buch viel Interessantes, Berührendes und Nachdenklich-Machendes über die Ukraine heutzutage: über junge Männer, die nach nur wenigen Wochen im Krieg völlig verstümmelt zurückkehren, auf der Straße betteln und von fast allen ignoriert werden... über nicht mehr sehr fitte 50-jährige, die fürchten müssen, zwangsrekrutiert zu werden... über Mariupol, das dem Erdboden gleichgemacht wurde... und über Menschen in der Ukraine, für die Russisch bisher die Muttersprache war und die nun bewusst aus Abscheu vor dem russischen Aggressionskrieg und aus Solidarität mit der als Heimat angesehenen Ukraine Ukrainisch lernen und ihre Kinder in dieser Sprache aufziehen möchten.
Nachdenklich machen auch die Privilegien, die ein deutscher oder österreichischer Pass nach wie vor verleiht... nur dieser - und die Tatsache, dass er zusätzlich keinen ukrainischen Pass mehr besitzt - macht es dem Ich-Erzähler möglich, während des Krieges als junger Mann nicht nur in die Ukraine einreisen, sondern auch wieder ausreisen zu können, ohne zwangsrekrutiert zu werden.
Ja, dieses Buch macht sehr nachdenklich. Über das Glück des Zufalls und der Geburtslotterie, das es immer noch bedeutet, in Mitteleuropa zu leben, wo es (bis jetzt) keinen Krieg gibt. Über die Schrecken des Krieges, über Propagandageschichten und die, die auf diese hereinfallen (davon gibt es ja leider auch in Mitteleuropa genug Menschen, und nicht nur russischstämmige). Über die Verbindungen zwischen einzelnen Menschen, die wir uns nicht nehmen lassen müssen. Und über den Mut, für das einzustehen, was wir als wahr erkannt haben.
Ein großartiges Buch, ein wichtiges Buch, gleichzeitig humorvoll und spannend geschrieben: Leseempfehlung für alle, die am aktuellen Zeitgeschehen in Europa interessiert sind!