Schützt die Unschuldigen

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marapaya Avatar

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So ungefähr weiß ich ja, was ein Podcast ist. Hören ja schließlich alle heutzutage und reden vor allem drüber oder bewerben ihn. Aber in Büchern bin ich bisher noch nicht auf einen Podcast gestoßen. Daher war ich zu Beginn des Romans von Courtney Summers auch etwas irritiert und tat mich schwer damit, überhaupt in die Handlung einsteigen zu können. Vor allem da ich ein großer Freund des Erzählens bin und mich dieses fürs Gesprochene konzipierte Aufgeschriebene echt aus dem Lesefluss gebracht hat. Zur Abwechslung gab es die Kapitel aus Sadies Sicht, die erzählen klassisch und zeitversetzt zum Podcast, der wesentlich später einsetzt und sich mit dem Verschwinden von Sadie beschäftigt.
Inhaltlich setzt sich der Roman mit einem sehr krassen Thema auseinander. Es ist nicht allein der Tod eines 13jährigen Mädchens, der die Handlung ins Rollen bringt und an sich schon schwer zu ertragen ist, sondern das Kernthema ist sexueller Missbrauch von Kindern. Und am Ende des Buches bin ich der Autorin dankbar, dass sie diese etwas distanzierte Form des Erzählens durch einen Podcast gewählt hat. Allein die Kapitel aus Sadies Sicht, in denen sie unvermittelt von Flashbacks verfolgt wird und zusammen mit dem Leser für einen kurzen Moment selbst nicht weiß, ob es gerade passiert oder aus der Vergangenheit kommt, sind nur schwer auszuhalten. Sadie ist auf einem Rachefeldzug, der Leser begleitet sie und erfährt durch den Podcast, dass ihr Weg am Ende offensichtlich in eine Sackgasse führt, da sie nicht wieder auftaucht und gesucht wird.
Summers zeigt in ihrem Roman ein Amerika, wie wir es uns ungern vorstellen. Öde, triste, verarmte Kleinstädte, in denen den Menschen jegliche Perspektive fehlt. Alkoholabhängigkeit und Drogen, die den Alltag bestimmen. Zerrüttete Familien, verrohte Menschen, Hoffnungslosigkeit über allem. Sadie wächst mit ihrer Mutter in einem Trailerpark auf. Eine Mutter, die selten nüchtern ist und ihrer Tochter jegliche Liebe verweigert. Mit sechs Jahren bekommt Sadie eine kleine Schwester, die sie fortan beschützt, erzieht und ihr ihre ganze Liebe schenkt, obwohl die kleine Schwester auch der Liebling der Mutter ist. Eines Tages verschwindet die Mutter und das Unheil nimmt seinen Lauf. Es endet mit einem toten Mädchen und einer vermissten großen Schwester. Dazwischen offenbart sich die ganz dunkle Seite im Menschen in Gestalt eines ehemaligen Liebhabers der Mutter, der sich ganz bewusst eine schwache Frau mit kleinen Töchtern ausgesucht hatte. Ein Mann, der nicht allein ist mit seinen Neigungen.
Vielleicht könnte man die Autorin kritisieren, dass sie ausgerechnet mit so einem sensiblen Thema einen Roman in den Handel bringt. Aber es ist ein wichtiges Thema, vor dem sich niemand drücken sollte. Sie zeigt auf, wie perfide pädophile Menschen in ihrem Umfeld agieren. Welche unterschiedlichen Typen es gibt und wie leicht sich die Erwachsenen von Reichtum, Macht oder vermeintlicher Ritterlichkeit blenden lassen. Kurz nach der Lektüre des Romans habe ich die Reportage „Leaving Neverland“ zu den Missbrauchsvorwürfen um Michael Jackson gesehen, die in ihrer einseitigen Perspektive durchaus fragwürdig ist. Erschreckend allerdings wie sehr diese Story Parallelen zu Summers Romanfiguren aufweist. Besonders berührt hat mich, wie lange die vermeintlichen Opfer gebraucht haben, um für sich selbst zu verstehen, dass ihnen da etwas angetan wurde, was ganz und gar nicht richtig ist. Wie erst mit der eigenen Elternrolle diese Erkenntnis kam und sich die Spätfolgen dann kaum noch verbergen ließen. Ähnlich wie Sadie, deren Verdrängungsmechanismen nach dem Tod der Schwester nicht mehr griffen und sich die Realität mehr und mehr zurück in ihr Leben drängte.
„Sadie“ ist im Beltz & Gelberg Verlag erschienen und richtet sich an junge Menschen, was ich nur unterstützen kann. Aufklärung und Warnung ist wichtig und ein Roman ist zumindest ein Anfang.