Bestürzend

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marialein Avatar

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Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, und dennoch leben Tausende von Deutschen in Armut - sie haben Hunger, und das nicht nur im übertragenen Sinn, sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und verachtet, und vor allem schämen sie sich.

Soziologe Stefan Selke setzt sich seit Jahren mit den Lebensumständen der Armen, sowie den Ursachen und verschiedenen Unterstützungsprogrammen auseinander. Er unterhielt sich mit Betroffenen in ganz Deutschland und gibt die Eindrücke dieser Begegnungen sehr eindrücklich wieder.

Im ersten Teil des Buches schildert er Einzelfälle, die trotz Anonymität und Urteilslosigkeit sehr einfühlsam wirken. Der Leser bekommt einen ersten Einblick, wie Armut überhaupt entsteht und wie die Betroffenen sie tagtäglich erleben. Auch wird sehr schnell klar, dass das alte Klischee des arbeitsfaulen Armen eine sehr oberflächliche Einstellung ist. Ebenso bekommt die Überlegung, wie viel Gutes Hilfsprogramme wie Tafeln oder Suppenküchen eigentlich leisten, eine neue Perspektive.

Der zweite Teil nennt sich "der Chor der Tafelnutzer". Hier verwendet der Autor allgemeine Aussagen, in denen sich alle Armutsbetroffenen einig sind, um ein eindrucksvolles Bild von ihrer Gefühlswelt und Lebensweise zu zeichnen. Spätestens hier wird dem Leser bewusst, dass Gesellschaft ein völlig falscher Eindruck vermittelt wurde und man die Situation der Armen eigentlich nicht beurteilen, und schon gar nicht verurteilen kann, wenn man nie selbst davon betroffen war.

Anschließend untersucht der Autor den Umgang der Gesellschaft mit dem Thema Armut. Er beschreibt verschiedene Hilfprogramme und deren Bedeutung für... die Helfer. Den Gegensatz zwischen Helfern und Hilfeempfänger, den Widerspruch zwischen dem, was die Helfer zu leisten glauben und dem Effekt, den ihre Hilfe tatsächlich hat, könnte man wohl kaum klarer herüberbringen.

Insgesamt ist _Schamland_ vor allem ein gut recherchiertes und überzeugend geschriebenes Buch, das vorgefasste Meinungen infrage stellt und die Augen öffnet gegenüber einem Notstand, den man kaum noch wahrnimmt. Es kritisiert die aktuellen Zustände stark, schlägt aber auch Lösungsansätze vor.

Wie zu erwarten war die Lektüre keine angenehme. Ein so heikles Thema kann kaum einen Leser kalt lassen, gerade wenn die eigene Sichtweise so radikal in Zweifel gezogen wird. Überrascht war ich hingegen, wie lebendig und leicht sich das Buch lesen lässt. Der Autor wollte seine Leser berühren und aufrütteln. Das ist ihm eindeutig gelungen.

Dass ich nun hundertprozentig überzeugt von dem Gelesenen bin, kann ich - noch - nicht behaupten. Dazu muss ich mich erst einmal intensiver mit dem Thema befassen und weiter darüber nachdenken. Auf jeden Fall wird mich _Schamland_ noch eine ganze Weile beschäftigen.