Das tägliche Drama der Armut

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merkurina Avatar

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Ein dünner Schleier, so scheint es, hängt nur zwischen der Welt, in der ein unwürdiger Kampf ums Nötige stattfindet und der ganz normalen schönen bunten Konsumwelt der Noch-Nicht-Armen und der deutlich Abgesicherten. Ein Schleier jedoch, der den Blick bestens versperrt, auf ein ökonomisches Armutssystem mitten unter uns, in dem die vom Leben unterm Existenzminimum Bestroffenen gezwungen sind, eine beschämte Parallelgesesellschaft zu bilden. So die überzeugend illustrierte These von Stefan Selkes Buch "Schamland".
Zunächst überrascht etwas, wie sehr Selke den Fokus seiner Reportagen und Analysen auf das System der Tafeln legt. Doch er trägt in seiner Studie Schicht für Schicht des Systems ab, in dem diese Tafeln einen hohen symbolischen und sozialen Stellenwert haben,: indem er Betroffenen das Wort gibt ebenso wie durch gesellschaftsanalytische Einordnungen.

Ich gehe davon aus, dass ich durch berufliche Tätigkeiten wie durch eigene kleinere wissenschaftliche Zugänge, aber auch durch ein bisweilen prekäres sozio-kulturelles Lebensumfeld durchaus recht viel von den beschriebenen Phänomen mitbekomme: als engagierte Großstädterin, die selbst nie Karriere machte, eben. Trotzdem enthält das Gesamtbild, das uns Stefan Selke enthüllt, auch für mich noch manche unangenehme Überraschung und damit einhergehend eine ganze Reihe von Denkanstößen. Die enorme Zurichtung des Tafelwesens auf Selbstdarstellung der eigenen Inistitutionen und unverstellte Pädagogisierung und Machtspielchen gegenüber den Menschen, die nicht anders können, als hier ihr Überleben zu sichern, hat mich beispielsweise dann doch frappiert. Obwohl man sich das in dieser medial inszenierenden und scheinheiligen Gesellschaft kaum anders vorstellen kann, ist es einfach geschmacklos... Erst Recht der Ausflug in den menschenunwürdigen Alltag im Asylbewerberheim zeigt, welch gruselige Anti-Solidarität mitten in einem reichen Land möglich ist.

Stefan Selke bewegt sich mit seiner Studie in einem Spagat zwischen den Ansprüchen der akademischen Welt und dem Versuch, ein aufrüttelndes, lesbares Buch zu schreiben. Damit gerät er in Gefahr, sich schriftstellerisch Kritik von beiden Seiten einzufangen: Denn er genügt nicht allzeit den sogenannten wissenschaftlichen Standards - welche oft genug schlicht Duftmarken in der aggressiven akademischen Konkurrenz und Abgrenzung zu nichtakademischen Schichten darstellen, deren zeigefingererhobener Anspruch also wenig interessieren muss, wenn wichtige Erkenntnisse vorliegen. Gleichzeitig entfernt sich Selke auch wieder nicht ganz vom fachwissenschaftlichen Vokabular des Soziologen, vielleicht weil er schlicht in diesem analytischen Denken sozialisiert ist, und es liegen Theoriekapitel vor, die keine allzu breiten Lesegewohnheiten treffen. Es ist eben keine unseriöse Soap-Opera. Ich selbst kam mit der Mischung gut zurecht. Lebendig zu lesen, wenn auch skandalös, fand ich die Tour durch Wohnungen und armutsökonomische Almosenorte in der Republik. Die eher theoretischen Teile gaben mir weitere wertvolle Hinweise.

Was also tun, was wünschen angesichts des elendigen Schlamassels? Auch Selke verrät es nicht, woraus ihm kein Vorwurf entstehen muss. Allerdings scheint er implizit mehr auf den Staat zu hoffen, als es mir angemessen scheint. Seit Schröder und Hartz wissen wir, was passiert wenn Staatsvertreter engagiert die Ärmel hochkrempeln und Bedürftigkeit systhematisch verwalten. Immer wieder entsteht in mir der Wunsch, Betroffene und mit ihnen Solidarische könnten sich in anderer als von pfiffigen Almosengebern gestalteter Weise zusammenschlißen, rebellieren, ihren Alltag und ihr politisches Sprachvermögen organisieren. Das verhindert unter anderem auch die Scham, die vielen handeln (und werden behandelt) einzeln, um sich nicht zeigen, nicht gestehen zu "müssen". Nicht ganz selten entstehen so bei den zur organisierten Bettelei Gezwungenen antidemokratische und rassistische Ressentiments, was Selke ebenfalls plausibel und erschreckend zeigt. Die Scham, die die Souveränität vernichtet, die zu Enttarnung und Protest führen könnte, wird durch Jobcenter, Tafeln und Co. systemathisch produziert. Denn darum geht es wohl: Menschen, die man ausschließt und vollkommen unwürdig behandelt, davon abzubringen, sich zu wehren und zu empören. (Die Jobcenter werden im Übrigen in diesem Buch eher am Rande gestreift, man kann ja nicht alles auf einmal machen. Deren Innenleben wäre eine eigene Studie wert, die in gleicher diejenigen Weise erschüttern könnte, die sich noch erschüttern lassen.)