Manchmal braucht es die Katastrophe, um das Leben wieder klar zu sehen

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"Was hatte sie gebraucht, was waren ihre Wünsche, ihre Sehnsüchte gewesen? Sie wusste nichts darüber zu sagen."

In einem Tal im Nordschwarzwald lebt Lisa mit ihrem Mann Simon und kümmert sich neben ihrem Vollzeitjob bei der Tourist-Info auch noch um die Buchhaltung im alten Familienhotel. Als eine verzweifelt wirkende Fremde im Hotel auftaucht und sich für längere Zeit einquartieren will, ist Lisa zwar zunächst misstrauisch, lässt Daniela dann aber immer mehr in ihr Leben hinein. Mit unabsehbaren Folgen.

Von Anfang an schafft Kristina Hauff eine beklemmende Atmosphäre in diesem Schwarzwald-Roman, der das Setting quasi nebenbei auffängt. Ich habe das Buch mit Ausblick auf den Nordschwarzwald gelesen und kenne diese Art Orte, die die Autorin beschreibt, nur zu gut. Simon als Revierförster bringt uns den (sterbenden) Wald näher; Lisa ist rührig im Ort und in allen möglichen Bereichen ehrenamtlich, beruflich oder hobbymäßig tätig. Das verschafft einen guten und authentischen Einblick in die Dynamiken in solchen kleinen Gemeinschaften, in denen jeder jeden kennt und man als Zugezogene immer die "Neigschmeckte" bleiben wird. Für mich hat das alles sehr gut ineinandergegriffen, ich fand es äußerst immersiv zu lesen.

Überraschenderweise wartet der Roman mit Perspektivwechseln auf, womit ich nicht gerechnet hatte. Tatsächlich hat mir das sehr gut gefallen, manche Dinge klären sich einzig und allein durch die eine Erzählstimme und bleiben den anderen verborgen. Lisa steht dennoch im Zentrum der Geschichte, als Frau, die sich immer schon für die Bedürfnisse der anderen aufgeopfert hat. Zuerst für die Eltern, um die Harmonie zu wahren. Später für Ehemann und Tochter. Für die Dorfgemeinschaft, den Chor, das Hospiz, ihre Freundin Johanna. Und letzten Endes auch für Daniela, die merkwürdige Fremde, die einfach im Hotel auftaucht. Dass sich dahinter weit mehr verbirgt, wird schnell klar, und Danielas fiese Spielchen und Manipulationen führen Lisa mitten hinein in die Lebenskatastrophe.

Selbst mit Daniela, dieser einigermaßen überspitzt gezeichneten Figur, die alle um den kleinen Finger wickelt und in Nullkommanichts in der Dorfgemeinschaft integriert zu sein scheint, konnte ich mich in gewisser Weise anfreunden. Denn es gibt solche Menschen, die, einzig auf ihren eigenen Vorteil bedacht, dennoch bei allen Anklang finden. Die irgendwie mehr strahlen als die Ottonormalverbraucherin. Die etwas Unwiderstehliches an sich haben. Und unter deren Oberfläche furchtbar dunkle Abgründe lauern, von denen man sich um jeden Preis fernhalten sollte. Sie ist quasi das Gegenteil von Lisa - beide erkennen genau die Bedürfnisse anderer Personen, doch während Lisa sich dann vollständig für diese aufopfert, weiß Daniela sie sich zunutze zu machen und zwar oberflächlich zu befriedigen, darunter aber nur sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Ein ausgeklügeltes Doppelgänger-Spiel beginnt, das ich als Stilmittel von Autorinnen äußerst zu schätzen gelernt habe.

Die anderen Figuren, die zu Wort kommen, sind Simon und Margret, die eigentlich das Familienhotel managt und seit Jahren mit Lisas Vater Carl in "wilder Ehe" lebt. Das Dorf weiß das natürlich, will es aber lieber nicht wissen. Ich kenne solche Konstellationen aus meiner eigenen Nordschwarzwald-Lebenswelt und fand das sehr gut gemacht. Insbesondere Carl, der alte Patriarch, wird in all seiner traurigen Scheußlichkeit wirklich gut gezeichnet. Als Mann seiner Zeit hat er nie auch nur in Betracht gezogen, dass Veränderung, Vertrauen und offene Zuwendung etwas Gutes sind. Er tyrannisiert alle um sich herum, insbesondere Lisa und Margret, und alle versuchen, es ihm irgendwie recht zu machen und vielleicht sogar irgendwann seiner Liebe würdig zu sein. Nur dass er keine Liebe zu geben hat, das wollen sie nicht sehen.

An all diesen Fronten kämpft also die Protagonistin Lisa, und Danielas Auftauchen zwingt sie dazu, genauer hinzusehen: Auf ihre Selbstaufgabe, ihre Eheprobleme, ihre Vorstellung von einem guten Leben. Das sind hochrelevante Themen für jede Person, da man sich doch allzu schnell einrichtet im vermeintlich "Normalen", und sich dann doch immer mal wieder fragt, was eigentlich nicht stimmt mit dem eigenen Leben. Insgesamt also ein fesselnder, spannend aufgebauter und unterhaltsamer Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.