Ein bildgewaltiges, märchenhaftes Werk, das zeigt, wie individuell Trauerbewältigung aussehen kann - nein, muss.

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angie99 Avatar

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Herr Ginster ist Trauerbeamter. „Trauerbeamter zu sein bedeutet vor allem, die Dinge im Fluss zu halten. Verschleppte Trauerarbeit wieder in Gang zu setzen. Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an.“ (S. 76)
Aus diesem Grund wurde er auf Familie Mohn angesetzt, die Mutter Johanne verloren hat. Denn Vater Adam und die Kinder Steven, Linne und Micha trauern intensiv. Länger, als vorgesehen wäre. Anders, als vorgesehen wäre. „Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe.“ (S. 5)
Das Verhalten von Familie Mohn ist auffällig. Anstößig. Untragbar. Sogar die Nachbarn machen sich Gedanken. „Ob sich die Mohns überhaupt einmal in die Lage von ihnen, den Kalsters, hineinprobiert hätten. Diese Unruhe in der Nachbarschaft täte ihnen nicht gut. Es gäbe schließlich das eine oder andere Herzproblem. ‚Ich habe auch ein Herzproblem‘, sagt Adam. ‚Wie interessant. Welches denn?‘ Die Kalsters sind Auge, Ohr. ‚Mein Herz ist gebrochen‘ sagt Adam. ‚Ach so‘, lächeln sie peinlich berührt. Immer diese Gefühle bei anderen Menschen. Was die wohl glauben.“ (S. 24)

Stefanie vor Schulte hat sich in ihrem zweiten Werk eines schwierigen und unliebsamen Themas angenommen: Trauerarbeit. Sie erschafft ungewöhnliche, wirkungsvolle, teilweise verstörende, irrwitzige Bilder, die aufzeigen, wie unterschiedlich die einzelnen Menschen trauern.
Und sie erinnert uns an die Kraft des Erinnerns. „Was von einem übrigbleibt, kann nicht laut genug von der Fülle erzählen, die man gegeben hat. Es hat ein großes Gefühl gegeben. Und groß soll es bleiben. Da ist es unerheblich, ob die Erinnerung mit der Vergangenheit übereinstimmt.“ (S. 74)
Familie Mohn gelingt es mit Hilfe von anderen kantigen Persönlichkeiten, die selbst Verluste erfahren haben, neue Erinnerungen an Johanne zu erschaffen. Das, was die Allgemeinheit als richtig ansieht, damit zu Übertölpeln.
Dabei hebelt die Erzählung selbst aus, was die Allgemeinheit als richtig und logisch ansieht. Sie driftet immer wieder ins Surreale ab. „Das Haus hat sich zur Seite geneigt. Vielleicht fließt deswegen das ganze Pech wieder hinaus.“ (S. 209)

Wenn Romane als „märchenhaft“ angepriesen werden, bin ich immer sehr skeptisch. Märchen sind nicht so mein Ding. (Aus diesem Grund habe ich mich auch davor gedrückt, „Junge mit schwarzem Hahn“ zu lesen.)
Bei diesem Buch hat mich der Klappentext neugierig gemacht und die Leseprobe so angesprochen, dass ich es lesen musste. Ich habe es auf keiner Seite bereut. Im Gegenteil. Stephanie von Schultes Werk brodelt nur so von Fantasie und Bildgewalt – und doch bleiben auch die traumhaften, allegorischen Sequenzen immer mit dem Grundthema und den Charakteren verbunden.

Der steife Trauerbeamte Herr Ginster hat mit Familie Mohn einen höchst schwierigen Fall aufgebrummt bekommen, doch die Ereignisse im 3. Obergeschoss von Güldene Kammer 14 lassen sogar ihn nicht kalt und er beginnt so manches anders zu sehen… - und eine ähnliche Veränderung kann ich an mir selbst feststellen: was mir anfangs noch wunderlich erschien, beginnt mir irgendwann richtig gut zu gefallen...

Überzeugt hat mich auf jeden Fall die sprachliche Umsetzung; die Satzstellungen teils ungewöhnlich, einen leicht antiquierten Sound verbreitend und doch durchgängig treffend. Ich komme mit dem Markieren bemerkenswerter, bedenkenswürdiger und schöner Sätze kaum hinterher.

Allerdings ist der Schreibstil nicht Jedermenschs Sache. Wer eine stringente Handlung benötigt, sollte es lieber lassen. Wer mit dem bildhaften Stil nicht klarkommt (Leseprobe hilft), auch.

„Schlangen im Garten“ ist definitiv kein gefälliges 08/15-Buch. Alles an ihm ist ungewöhnlich, worauf glücklicherweise schon das Cover hinweist.
In meinen Augen passt jedoch all das Außergewöhnliche - Schreibstil, Charaktere, surreale Elemente, Anliegen - hier wunderbar zusammen, es ergänzt sich, wirkt umso intensiver, macht es unvergesslich. Ich persönlich bin begeistert!