Fantastische Trauer?

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Ja, Trauer kann fantastisch sein. Und zwar nicht im Wortsinne von „super, spitze, mega“ für „fantastisch“ sondern im Sinne von „unwirklich, übernatürlich, märchenhaft“. Denn so sieht die Trauer der Familie Mohn im Roman „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte aus, fantastisch.

Johanne, die Mutter von Steve, Linne und Micha und Ehefrau von Adam ist gestorben. Als sei dieser Schicksalsschlag nicht schon schwer genug zetern nun die Menschen im Umfeld der Familie, diese solle doch langsam mal darüber hinwegkommen und weiter machen mit diesem Ding, das Leben heißt. Trauer bewegt sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen und wer nicht ins Bild passt stört. Denn Steve treibt auf seinem Longboard mit geschlossenen Augen durch die Stadt, Linne prügelt sich mit allem und jedem, Micha zieht sich gefährlich weit zurück und Adam bekommt die alltäglichsten Dinge nicht mehr auf die Reihe. Also kommt Post vom Traueramt und mit ihr Herr Ginster ins Leben der Familie. Er ist Trauerbeamter und dafür zuständig, dass die Familie doch nun bitte mal vorankomme in ihrem Trauerprozess. Alles bürokratisch korrekt, wie es sich gehört.

Und mit Herrn Ginster ziehen ebenso immer mehr märchenhaft-fantastische Elemente in das Leben der Mohns ein und somit auch in das Schreiben von Stefanie vor Schulte. Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass die Trauer der Familie nur in der Fantastik dargestellt werden kann, denn Trauer ist etwas Unausprechliches. Das Leben in Trauer ist ver-rückt. So verrückt die Realität des Romangeschehens immer weiter in eine skurrile, surreale Fantasiewelt. Immer häufiger kommt es zu unrealistischen Ereignissen. Die Bilder, die dieses Stilmittel erschafft, sind besonders im Mittelteil unglaublich stark. Die Herangehensweise der Autorin an die Thematik erscheint geradezu frisch im Vergleich zu vielen anderen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zum Thema Trauer. Aber sie schlägt wiederum auch in eine Kerbe, welche gerade in den letzten ca. fünf Jahren häufiger in der Literatur auftaucht: Trauer und Verlust mit Absurdität bis skurriler Komik zu begegnen. Man denke an „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber, „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky oder ähnliches. Das Besondere von vor Schultes Buch ist sicherlich die Fantastik.

Leider sehe ich hier allerdings auch die größte Schwäche des Romans. Denn gerade im letzten Drittel verschwimmt nicht nur Realität mit Fantasie, das Fantastische verdrängt vollständig das Realistische. Unglaublich viele übernatürliche Dinge geschehen und man verliert beim Lesen fast den Überblick, was jetzt eigentlich geschieht. In die Realität finden wir nicht wieder zurück und treiben verschollen in der Mystik. Ohne zu viel zum Ende zu verraten, so hätte es mir doch besser gefallen, wenn wir uns zuletzt hätten wieder in einem realistischen Raum des Trauerprozesses wiederfinden können.

Die Haupt- und Nebenfiguren waren durchaus interessant gezeichnet, auch wenn ich ihnen nur punktuell wirklich richtig nahe war und mit ihnen gefiebert habe. Auch dieser Kontakt zu den Figuren, welcher im Mittelteil besonders eng war, verlor sich zunehmend im letzten Drittel des Buches. Der Schreibstil der Autorin ist solide und findet passende Bilder und Beschreibungen für diesen unaussprechlichen Zustand nach dem Tod einer geliebten Person.

Über zwei Drittel des Buches hinweg wähnte ich mich in einem sehr guten, wenn auch nicht grandiosen Werk zum Thema Trauerprozess bzw. Trauerbewältigung. Das letzte Drittel schoss dann meines Erachtens jedoch etwas zu weit übers Ziel hinaus und ließ mich eher unzufrieden zurück. Wenngleich „Schlangen im Garten“ für mich mit 3,5 Sternen „nur“ ein insgesamt (überdurchschnittlich) gutes Buch darstellt, kann ich es durchaus für eine unkonventionelle Lektüre zum Thema Trauer weiterempfehlen.