Ein spannender Familienroman

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Von

Schönwald

Philipp Oehmke hat einen wunderbarer Roman über eine komplizierte Familie und ihre fehlende Kommunikation geschrieben.
Die Familie Schönwald hütet Geheimnisse.
Chris, der liberale Linguistik-Professor, in den USA erfolgreich, erhält eine Kündigung der Uni und wechselt ins rechte politische Lager der Trump-Anhänger, die selbst ein Jahr nach der „gestohlenen“ Wahl weiterhin ihre Mythen pflegen und an dem Sieg der nächsten Wahl arbeiten.
Seine Schwester eröffnet in Berlin einen queeren Buchladen. Bei der Eröffnung des Buchladens kommt es zu Angriffen junger Internet-Aktivist:innen, die die Herkunft des Startkapitals für den Buchladen hinterfragen. Ist das Geld des Großvaters „Nazi-Geld“?
Karolins sexuelle Orientierung scheint etwas „unklar“ in der Familie zu sein. Aber es fragt auch niemand nach.
Der Bruder Ben lebt mit Frau (die auch an ihren eigenen Kindheitstraumata als Tochter eines Milliardärs, der sie nicht beachtet hat) und Kindern in Brandenburg. Der hochintelligente Mann, der die Studiengänge Mathematik und Jura gleichzeitig erfolgreich absolviert hat, leidet unter Zwangsstörungen
Die Eltern Ruth und ihr Ehemann Harry haben sich auch nicht mehr viel zu sagen. Ruth blickt auf eine gescheiterte Karriere als Germanistin-Professorin zurück, auf die sie wegen der Kinder verzichtet hat. Sie möchte den Schein einer perfekten Familie wahren und findet nicht, dass man nicht über alles reden muss. Harry möchte gern ergründen, ob sein Leben glücklich verlaufen ist und besucht heimlich eine Therapeutin.
Bei einem Zusammentreffen der Familie anlässlich der Eröffnung des Buchladens in Berlin kommt es zu zahlreichen Komplikationen und einige Geheimnisse werden gelüftet.
Die Charaktere dieses Romans sind unglaublich gut dargestellt, ebenso die aktuellen gesellschaftlichen Strömungen.
Thomas Mann spielt sowohl im wissenschaftlichen Schaffen der Mutter als auch in dem Roman immer wieder eine Rolle, aber auch andere Anspielungen auf Literatur und Kunst zeigen, dass der Autor ein großer Kenner der Literatur- und Kunstszene sowohl in Deutschland als auch in den USA ist. Ich bin ein wenig neidisch auf seine Freundschaft zu Campino von den Toten Hosen.
Die gesellschaftspolitische Zeit der Generationen wird spannend abgebildet (Boomer Generation - Generation X - Millennial Emos) und weckt Erinnerungen an meine eigene Zeit zwischen Boomern und Generation X.
Die personale Erzählperspektive bleibt durchgängig bei allen Familienmitgliedern erhalten und so lernen wir sie alle in ihrer Sichtweise ihrer kleinen, eigenen Sicht der Welt kennen. Hier ist sicher auch der Unterschied zur auktorialen Erzählperspektive eines Thomas Mann zu sehen, es gibt keine Erklärungen oder Belehrungen eines außenstehenden Beobachters, die Zerrissenheit dieser Familie, ihre Sprachlosigkeit werden nicht kommentiert. Da haben die großartigen aktuellen amerikanischen Autoren ihren Einfluss hinterlassen. Und das ist gut so.
Die grandiose Erzählkunst des Autors zeigt sich auch in der detailgenauen Beschreibung zum Beispiel der brandenburgischen Hipster-Bauernhöfe samt ihrer Bewohner (unglaublich satirisch) oder in dem Kapitel „Peshawar“, in dem es über Bennis Versuch der Überquerung des Khyber Passes geht (unglaublich traurig).
Ich bin dankbar für dieses Buch und habe es voller Germanisten-Freude gelesen.