Einfluss von Familienvergangenheit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
ute54 Avatar

Von

Das etwas biedere Cover leitet sehr gut in dieses Familienepos ein. Es zeigt eine sehr gut distinguierte Ehepaar, wahrscheinlich Hans-Harald, den Staatsanwalt a.D., der immer im „Versteck“ lebt und alles schlichten möchte, sowie Ruth, seine Gattin, die auch ein nach außen perfektes Bild abgibt, jedoch immer alles unter den Teppich kehrt, obwohl sie über den Verlauf ihres Lebens unglücklich ist.
Dieses gekünstelte, perfekte Verhalten, das (Ver)Schweigen, geben sie unbewusst an ihre drei Kinder weiter, die zwar sehr unterschiedlich sind, aber ähnlich auf große Konflikte reagieren.. Als die Tochter Karolin einen queeren Buchladen in Berlin eröffnet, kommen die Eltern sowie die Brüder, Chris und Benni, zusammen. Internetblogger greifen das Geschäft mit Farbbeuteln an und werfen der Familie vor, mit dem „Nazigeld“ des Großvaters ein erfolgreiches Leben aufgebaut zu haben. Es kommt zum „Knall“, und das wackelige Lügenkonstrukt gerät ins Wanken. Quälende Geheimnisse treten zutage.
Die Dramatiken zwischen den Charakteren, die sehr exakt und individuell gezeichnet sind, werden offenbar. Alle sind sehr realistisch und mit psychologischem Einfühlungsvermögen charakterisiert.
Die offenen Konflikte innerhalb der Familie unterliegen einer Zerreißprobe , und es fragt sich, ob die Familie an ihren Geheimnissen zerbrechen wird. Viele politische und gesellschaftliche Themen werden auch thematisiert. Der sehr stark aktuelle Bezug wirkt manchmal etwas konstruiert, ebenso wie eine Überfrachtung mit brennend heißen Themen wie, unter anderem, Bezug zur Trump-Bewegung, Me-Too Movement, Missbrauch und Homosexualität.
Aber der Roman ist sehr unterhaltsam und abwechslungsreich, besonders durch Perspektivwechsel.
Der Spannungsbogen wird geschickt aufgebaut, ist temporeich und humorvoll, und der Leser muß sich fragen, ob die Nazi-Vergangenheit oder die Familienproblematik das Leitthema sind. Der Showdown zum Schluß hat mir gut gefallen.
Der anschauliche, mitreißende Schreibstil schafft den Charakteren Ecken und Kanten, allerdings versteckt hinter den Halbwahrheiten.
Das sehr umfangreiche Werk regt zum Nachdenken an, denn es geht um Identifikation, Bewusstwerdungsprozesse und Erklärungen, warum wir sind, wie wir sind.
Zwar gibt es einige Längen, aber der Roman ist ein sehr unterhaltsames, kritisches Familienportrait.