Familiäre Verdrängung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
fräuleinsalander Avatar

Von

Familie Schönwald trifft sich endlich mal wieder, denn zur Eröffnung des queeren Buchladens der Tochter Karolin kommen sie alle: Sohn Chris aus den USA, Sohn Benni mit seiner Familie aus der Brandenburger Provinz und Ruth und Hans Harald, die Eltern aus Köln. Doch die Eröffnung des Buchladens verläuft nicht wie geplant und statt sich selbst zu feiern, werden die Schönwalds mit allerlei Familiengeheimnissen konfrontiert, die sie doch all die Jahre so erfolgreich verdrängt haben.

Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen, denn obwohl er mit über 540 Seiten doch recht umfangreich ist, ist er doch sehr kurzweilig und anregend geschrieben. Es gibt Referenzen zum Zeitgeschehen, zu Literaturtheorie, Identitätspolitik, Popkultur, US-Politik, Berliner Hipstertum und vielen weiteren Themen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, aber zu einem dichten Familienporträt verwoben werden, das durchaus auch ironische und gesellschaftskritische Untertöne hat.

Jeder der Schönwalds hat ein Geheimnis, das im Laufe des Romans zur Sprache kommt. Durch den Wechsel der Perspektiven und das Eintauchen in die Geschichte der einzelnen Figuren ist die Geschichte abwechslungsreich und vielfältig, da die Charaktere teilweise sehr unterschiedlich sind. Sie werden den Lesern in den unterschiedlichen Kapiteln nähergebracht. Manchmal erscheinen die Charaktere vielleicht etwas schablonenhaft, da sie oft Eigenschaften haben, die klischeehaft für einen bestimmten Typ Mensch stehen, zum Beispiel ist Benni der ruhige, überlegte Mathematiker, der am liebsten Outdoor-Kleidung trägt, Emilia die verwöhnte Tochter aus reichem Hause, die eine stets besorge Übermutter für ihre Söhne ist und ihre Familie vegan ernähren möchte, Chris der akademische „Overachiever“, der die USA dem spießigen Deutschland vorzieht. Jeder Charakter überrascht jedoch im Laufe des Roman auch mit Eigenschaften, die ganz und gar nicht seinem „Typ“ entsprechen.

Für mich war Ruth die interessanteste Figur, eine durchaus konservative Frau, die in den 70er/80ern versucht hat, Familie unter einen Hut zu bringen und in der sich dadurch, dass dies mehr schlecht als recht möglich war, eine unglaubliche Wut angestaut hat. Sie ist die Meisterin der Verdrängung und hat ihrer Familie diesen Weg, mit Problemen umzugehen sozusagen aufgedrängt: Die anderen haben sich, nicht zuletzt aus Bequemlichkeit, an Ruth’s Art der Problemlösung orientiert. Es verbindet die Schönwalds auch untereinander, dass sie die Augen vor Problemen ihrer Familienmitglieder verschließen und mit ihren Gefühlen eher an der Oberfläche bleiben. Die Eltern sind stolz auf das, was die Kinder geschafft haben, aber für andere Gefühle ist wenig Platz. Rationalität steht über allem, denn dies wurde Ruth bereits als Kind eingebläut. Am Schluss, der nach meinem Empfinden fast ein bisschen „soft“ geraten ist, zeigt sich jedoch, dass es auch befreiend sein kann, alle Karten auf den Tisch zu legen.