Familiärer Mantel der Verschwiegenheit

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aischa Avatar

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Philipp Oehmke hat es einfach drauf: Der studierte Germanist und Journalist hat vor Jahren mit seiner Biografie über die Punkband Die Toten Hosen einen Verkaufsschlager hingelegt, und es würde mich nicht wundern, wenn auch sein erstes belletristisches Werk ein Bestseller wird.
Mich jedenfalls hat die Geschichte der fiktiven Familie Schönwald durchweg gefesselt, was bei über 500 Seiten schon eine Leistung an sich ist. Oehmke erzählt spannend, unterhaltsam, kurzweilig und informativ. Die Kapitel nehmen unterschiedliche Erzählperspektiven der Familienmitglieder ein: Harry, der als Staatsanwalt und Vater dreier erwachsener Kinder scheinbar ein erfülltes Leben hatte, nun aber im Rückblick den ein oder anderen Zweifel verspürt und (heimlich) eine Therapie beginnt. Seine Frau Ruth hingegen, die der Familie zuliebe auf ihre Karriere als Germanistin verzichtet hatte, wischt seit jeher alle Probleme beiseite, in der Hoffnung, dass das, worüber man nicht spricht, auch keine große Bedeutung erlangt; überdies möchte sie ihre Lieben nicht unnötig belasten. Und so ist es nicht wirklich überraschend, dass auch die drei erwachsenen Kinder wichtige Teile ihrer Leben verheimlichen, vor den Eltern oder vor ihren Partner*innen.
Dem Autor gelingt es hervorragend, durch die Perspektivwechsel zu zeigen, dass es oft nicht die eine Wahrheit gibt, und das innerfamiliäre Geflecht wird bei der Lektüre so geschickt aufgebaut, dass man das Gefühl hat, einer Familienaufstellung zusehen zu dürfen.
Der Plot steckt voller überraschender Wendungen, die sehr überzeugend aufgebaut sind. Besonders gelungen fand ich die Wandlung des ältesten Sohns, der in die U.S.A. ausgewandert ist, vom linksliberalen Linguistikprofessor zum Wahlkampfhelfer in Donald Trumps Make-America-Great-Again-Maschinerie. Oehmke erweist sich hier als ausgewiesener Kenner der U.S.-amerikanischen Gesellschaft, wozu sicher beigetragen hat, dass er fünf Jahre lang das New Yorker Büro des Magazins "Der Spiegel" leitete.
Ein paar Wiederholungen hätte das Lektorat kürzen können, aber ich gebe dennoch eine uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen hervorragenden Familien- und Gesellschaftsroman.