Schönwald ist ein komplexer Familienroman

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maesli Avatar

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Schönwald ist ein komplexer Familienroman, dessen knappe Zusammenfassung eine Herausforderung für mich geworden wäre. Deshalb gebe ich hier der Einfachheit halber den Klappentext vollumfänglich wider.
Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Eines muss man Philipp Oehmke lassen; er ist ein souveräner und smarter Erzähler, der weiß, wie man Menschen skizziert und sie im Gefüge einer funktionierenden, oder eben nicht funktionierenden Familie einfließen lässt. Er analysiert eine Familie und ihre einzelnen Komponenten glasklar, ohne Empathie, und erstellt die Profile objektiv. Er wechselt geschickt die Perspektiven, um vom vermeintlichen Schönwald-Fluch zu erzählen und greift immer wieder Erzählfäden auf, die er eben noch abgelegt hat. Damit gibt er seinen Figuren, besonders Ruth und ihrem ältesten Sohn Christopher, große Plastizität und charakterliche Profile.
Christopher Schönwald ist für mich die faszinierendste Figur in diesem groß aufgezogenen Familien- und Gesellschaftsroman. Der große Bruder, der immer zur Stelle ist für seine Geschwister und der sich selber in eine Situation gebracht hat, aus der er schwer herausfindet.
Eine weitere Persönlichkeit, die omnipräsent im Roman ist, ist Ruth. Selbst eine grandiose Germanistin, blieb ihr die Verwirklichung ihrer großen akademischen Karriere verwehrt. Schlussendlich musste auch sie sich der gesellschaftlichen Erwartung fügen und ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ausüben. Ein Schritt, den sie nach dem Motto ihres Vaters „Never complain, never explain“ der Familie mit Depression quittierte und ihr ein Dogma den Verdrängen aufzwängte.
Leider wird die ganz große Frage, für was schlussendlich die Geschwister Christopher, Karolin und Benni Schönwald geschichtlich geradestehen müssten, nicht geklärt. Schade, denn das hätte mich schon interessiert.
Der Leser sollte sich besonders bei den Abschnitten, die von Chris handeln, nicht an den Anglizismen stören. Auch die Passagen, die von der aktuellen Social Media Welt und ihrer abstrakten Kommunikationsweise erzählen, sind voll von englischen Begriffen. Mir war das z. T. auch zu viel, weil ich ja Deutsch lesen möchte, aber ich verstehe, dass etwaige Übersetzungen, sofern es sie überhaupt in Deutsch gibt, in diesem Kontext wahrscheinlich nicht so authentisch rübergekommen wären.

Fazit
Schönwald ist ein Familienepos und eine brillante Darstellung der aktuellen Gesellschaft, von Philipp Oehmke souverän und smart zu Papier gebracht. Die markanten Charakterisierungen der einzelnen Protagonisten in einem familiären Kontext, eine vermeintliche Nazivergangenheit des Großvaters, die sich in der Gegenwart wiederfindet und das von der Mutter aufgezwängt Familienkonzept des Verdrängens und Nichtaussprechens, gibt ein wenig schmeichelhaftes Bild der narzisstischen Jetzt-Zeit.