Vom Verfall einer Gegenwartsfamilie

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Philipp Oehmkes ‚Schönwald‘ ist mein bisheriges Lesehighlight 2023. Das Echo von Thomas Manns 'Buddenbrooks' tönt durch den ganzen Familienroman - und das im besten Sinne. Wie im historischen Vorgänger steht die Entwicklung einer Familie über Generationen hinweg und der Einfluss, den sie aufeinander haben, im Vordergrund. Während die Eltern- und Nachkriegsgeneration das Arbeitsleben bereits hinter sich hat, stehen nun die Kinder - irgendwo zwischen Generation X und Y geboren - vor der Aufgabe, sich den Krisen der Gegenwart anzunehmen und gleichzeitig die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Als Chris, der älteste unter den Geschwistern Schönwald, nach Deutschland zurückkommt, um an der Eröffnung des queeren Buchladens seiner Schwester Karin teilzunehmen, weiß noch niemand in der Familie, dass er seine Professur an der Columbia in NYC wegen seiner Verstrickung in ein Title IX Verfahren verloren hat und seitdem als Trump Surrogate durch die US-amerikanischen Medien spukt. Schön, dass aber zunächst niemand auf ihn achtet: Die Eröffnung ist überschattet von Social Media-Aktivist*innen, die anprangern, das Startkapital für den Laden stamme von der Schönwaldschen Großelterngeneration, die ihr Vermögen unter den Nazis gemacht haben soll. Plötzlich steht die Familie vor einer lang befürchteten Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit, der sie sich bisher doch so exzellent zu entziehen wusste…

Durch Oehmkes aufwendig komponierte Sätze klingen Biss und Ironie, die den Verfall einer Gegenwartsfamilie begleiten. Besonders berührt hat mich dabei die Geschichte um Chris. Die Wandelsbeschreibung des Poststrukturalisten zum postfaktischen Neoliberalisten ist absolut treffsicher und scharfsinnig. Oehmke beleuchtet jedes der Familienmitglieder und die Beziehungen, die sie untereinander führen so, dass nach und nach deutlich wird, wie und warum sie alle sich an den wenigen Tagen, an denen der Roman spielt, in Berlin zusammenfinden und welche (Ab-)Wege sie an den Ort in ihrem Leben geführt haben, an dem sie nun sind. Diese Einblicke sind durchweg rührend und zugleich bissig geschildert. Viel mehr ließe sich zu dem Roman noch sagen, stattdessen hier aber nur eine ganz klare Leseempfehlung!