Chinesische Gesellschaftskritik

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marieon Avatar

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Während der Hausherr Chopin hört, weckt Yu Ling den Jungen. Gestern stand sie den ganzen Abend in der Küche und hat Leckereien für ihren gemeinsamen Ausflug gezaubert. Ananas- Zuckermelonenstückchen, Erdbeeren und Pfirsiche, Fleisch- und Fischspieße mit verschiedenen Dips, wie es sich für ein Barbecue gehört. Der Junge putzt seine Zähne und Yu Ling sucht ihm unauffällige Kleidung heraus. Als sie ihm den grauen Pulli überziehen will, mault er, dass er den gelben will. Sie ignoriert seinen Protest. Sie müssen sich beeilen, bevor Kuan Kuans Mutter wiederkommt. Sie würde nicht wollen, dass sie sich vom Villengelände entfernen. Draußen wartet der Van ihres Freundes, der Chauffeur der Familie hat andere Aufträge. Sie hat alles durchgeplant.

Sie fahren aus Peking hinaus, Kuan Kuan kurbelt das Fenster herunter und hält den Kopf raus. Juchzend folgt der Oberkörper. Er soll das lassen, schreit Yu Ling, aber der Junge hört nicht. Ein Lkw rauscht vorbei, der Junge schreit dem Fahrer etwas zu, der legt eine Vollbremsung hin. Als er aussteigt, geht er um den Wagen herum und flucht, er hatte gedacht, ihm sei ein Reifen geplatzt. Schwäne ruft der Junge und zeigt auf die Ladefläche. Er will einen haben, kreischt er hüpfend. Yu Ling weiß, dass das jetzt noch lange dauern kann, wenn sie nicht nachgibt. Sie nickt ihrem Freund zu, der verhandelt mit dem Fahrer um eine schneeweiße Gans. Ihr Telefon klingelt, Yu Ling geht ran. Sie soll sofort mit dem Jungen zurückkommen, verlangt der Hausherr.

Der Plan war klar umrissen. Sie würden drei Tage mit dem Jungen in den Wäldern verschwinden, dann die Familie kontaktieren und die Lösegeldforderung stellen. Sobald das Geld bei ihnen angekommen wäre, würden sie den Jungen in einem Pekinger Freizeitpark verlieren, sich davon stehlen und die Eltern informieren.

Fazit: Zhang Yueran, eine der wichtigsten Stimmen Chinas und mehrfach ausgezeichnete Autorin, hat mir ein Stück chinesische Gesellschaft gezeigt. Die Protagonistin schuftet rund um die Uhr bei einer elitären Familie als Kindermädchen. Ihr eigentlicher Traum war es, Lastkraftwagen zu fahren, wie ihr Vater. Sie hatte den Führerschein gemacht, um ihm zu zeigen, dass sie mehr taugt als andere Frauen, doch sie blieb unsichtbar und er herablassend. Ein unglückliches Ereignis begrub ihren Traum. Sie lebt in einer fremden Villa mit einer Hightech Küche und täglich fragt sie sich, welche Küchenmaschine sie einmal ihr eigen nennen darf und weiß genau, dass sie sich das niemals wird leisten können. Eifersüchteleien der Mutter des Jungen erschweren das Zusammenleben. Der Drill ihres Vaters hat aus ihr eine disziplinierte, pflichtbewusste Frau gemacht. Ihr Lover hat Geldschwierigkeiten, denen sie mit ihrem Ersparten nicht beikommen kann, loyal wie sie ist, entsteht ein Plan. Die Autorin schreibt bildhaft und ruhig. Sie braucht keinen Pathos, um Stimmung zu erzeugen und mich spüren zu lassen, wie es um die Stellung der Frau in China bestellt ist. Ich weiß von einem Hongkongbesuch, dass in den Ballungsgebieten der überwiegende Teil der Bevölkerung auf kaninchenstallähnlichem Raum lebt und für sehr wenig Geld sehr viel arbeitet. Lebenshaltungskosten und Miete fressen die kleinen Einkommen auf. China ist ein arg menschenfeindlicher Ort. Die Bevölkerung durch strenge Erziehung angepasst, geisterfürchtig, obrigkeitshörig und diszipliniert. In China zu leben, heißt zu funktionieren, das ist fern jeder Lebensqualität. Die vielen Prachtbauten sind nur für die wenigen dekadenten Schönen und Reichen, die ihr Fähnchen in den richtigen Wind gehängt haben. Zhang Yueran hat mir auf ihre unaufdringliche Art ihre Kultur nahegebracht und mich auch noch großartig unterhalten. Absolut lesenswert.