Der Wind der Veränderung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
soleil Avatar

Von

Inhalt
Yu Ling arbeitet als Kindermädchen des siebenjährigen Kuan Kuan bei einer schwerreichen Familie in China. Um sich ein besseres Leben mit ihrem neuen Freund zu ermöglichen, plant sie mit diesem, den Jungen zu entführen und Lösegeld zu fordern. Doch just an besagtem Tag werden Vater und Großvater des Jungen wegen Korruptionsverdacht verhaftet. Seine Mutter bleibt verschollen. Yu Ling, die seit Jahren für den Jungen zuständig ist, muss neue Entscheidungen treffen. Und sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen.


Meinung
Ein kleines, handliches Büchlein, das es in sich hat. Das ist kein Thriller, das ist Literatur, angefüllt mit gesellschaftlichen Themen, Klassenunterschieden wie Geschlechterrollen. Die Autorin entwirft ein Bild, das zunächst klar verteilte Rollen zeigt, die jedoch zunehmend mehr zerfasern und sich in metaphorischen Bildern aufzulösen drohen.
Zu Beginn haben wir das Kindermädchen Yu Ling, das den siebenjährigen Jungen für den Tag, ein Ausflug ist geplant, fertig macht. Der Vater nimmt sie meist nicht wahr, was Yu Ling tatkräftig unterstützt, die Mutter, die sich selbst als verkannte Künstlerin sieht, ist mehr auf sich selbst fixiert. Yu Ling dagegen kämpft mit einer Vergangenheit, die von einer Haftstrafe gekennzeichnet ist, die sie tunlichst geheimzuhalten sucht. Alles in dem großen Haus ist streng geregelt, jeder kennt seinen Platz. Yu Lings neuer Freund, den der Leser wesentlich eher durchschauen wird als sie selbst, wartet mit einem Auto auf sie und den Jungen. Der Kleine will unterwegs einen Schwan kaufen und retten – niemand sagt ihm, dass es eigentlich eine Gans ist, denn er soll bei Laune gehalten werden. Noch auf dem Land kommen die ersten Nachrichten herein, die Männer der Familie wurden verhaftet. Es klärt sich auf, dass auch Yu Ling etwas Frevelhaftes vorhatte. Doch beschützt sie den Jungen auch, was sie von Anfang an sehr sympathisch macht. Die Männer nicht greifbar, die Mutter scheint verschollen, die Großmutter ist so stark erkrankt, dass sie nicht ansprechbar ist. Yu Ling sitzt in der Zwickmühle, was soll sie nur tun? Sie kehren alle unverrichteter Dinge zurück in die Villa. Dort trennen sich die Wege verschiedener Personen, es gibt nichts von Wert, kein Geld. Nach außen hin muss alles normal wirken. Zwischendrin immer die Gans, der der Junge ein Zelt im Wohnzimmer baut. Nach und nach kommen andere Personen zusammen, eine Frau, die sich als die Geliebte des Vaters vorstellt, eine Nachbarin, eine Lehrerin des Jungen, das Dienstmädchen, das mit dem Schmuck der Mutter abgehauen ist. Die Geschichten dieser Frauen verbinden sie, auch wenn sie sich eigentlich fremd sind. Sie zeichnen ein Bild der Gesellschaft aus einer eher ungesehenen Sicht: der weiblichen. Sie zeigen aber auch, wie sehr das Leben schon von Geburt an bestimmt wird, abhängig davon, in welche gesellschaftliche Schicht man geboren wird. Yu Ling macht das deutlich, wenn sie sich den schönen großen Herd der reichen Familie wünscht und überlegt, ob man diesen wohl aus der unbewachten Villa holen könnte. Aber was dann? In das kleine Haus der Familie würde der gar nicht reinpassen. Solche Details sorgen für Lebendigkeit, sie zeigen mit nur wenigen Worten die Probleme auf und das so, dass sie jeder versteht.
Yu Ling nun bleibt wegen dem Jungen, aber es wird ebenso deutlich, dass sie im Prinzip nirgendwo anders hinkann. Ihr Vater ist verstorben und die Mutter kümmert sich um den Bruder und dessen Kinder. Sie ist wie die Gans, die nicht fliegen kann. Für Kuan Kuan ist sie schön und ein Schwan – und was soll er auch ohne sie machen. Nur warum spielt sie sein Spiel mit, ohne ihn zu berichtigen? Ist das nicht auch sehr weiblich, würde es nicht Zeit werden, aus diesem Denkmuster auszubrechen?
Die Autorin nun schreibt sehr pointiert, aber nicht sehr tiefgehend, was bei der geringen Seitenzahl auch nicht verwundert. Sie malt Bilder mit wenigen Strichen, vieles bleibt der Reflexion des Lesers überlassen. Am Ende ist diese Geschichte vieles, von Krimi zu Gesellschaftskritik über ein bisschen Komik hin zu Frauenleben von heute (nicht nur) in China. Und über allem hängt das Geld. Der Leser muss bei allem mit dabei sein, er muss eintauchen und zwischen den Zeilen lesen können, es wird nichts serviert, hinschauen will gelernt sein. Aber es lohnt sich.