Die engen Grenzen der Freiheit

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taina Avatar

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Was wie ein Kriminalfall beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zu einem psychologischen Porträt der Protagonistin Yu Ling und einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit.
Yu Ling arbeitet als Kindermädchen bei einer sehr vermögenden Familie in Peking. Das soziale Gefälle zwischen ihr und ihren Arbeitgebern ist offensichtlich, aber sie profitiert von deren privilegierten Wohn- und Lebensverhältnissen. ‚Ein Kindermädchen unterstellt ihr eigenes Leben dem eines anderen, wie ein Bild in einem Bild.‘ (203) Zusammen mit ihrem Freund Donghu plant Yu Ling die Entführung des ihr anvertrauten siebenjährigen Kuan Kuan, für den sie eine wichtige Bezugsperson ist. Sie will Geld erpressen, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Unterwegs mit dem Auto sieht Kuan Kuan einen Gänsetransporter, er hält die Tiere für Schwäne und nötigt Yu Ling, dem Fahrer eines der Tiere abzukaufen. Als Yu Ling bemerkt, dass Dhongu dem Kind offenbar etwas antun wollte, gibt sie ihren Plan auf. Im Autoradio erfahren sie zudem, dass gegen den Schwiegervater des Hausherrn wegen ‚schwerer Vergehen‘ ermittelt werde. Der Hausherr und seine Frau sind verschwunden, Yu Ling kehrt in ein leeres Haus zurück. Sie merkt mehr und mehr, dass sie eine starke Bindung zu Kuan Kuan entwickelt hat. Sie bringt ihn auch nicht zu seinen Großeltern, wie sie es nun vorhatte.
Freiheit ist ihr wichtig, sie hat bisher ungern für die Familie gearbeitet, weil sie sich in ihrer Entscheidung dazu nicht frei fühlte, da die Hausherrin von einer Vorstrafe erfahren und sie damit zum Bleiben genötigt hat. Andererseits empfindet Yu Ling die Tatsache, dass Dhongu ihr Bankkonto plündert und sich aus dem Staub macht, als Befreiung, da sie ihm nun nichts mehr schuldig ist. Als sie merkt, dass sie nicht als einzige unfrei in das Leben hineingeraten ist, das sie führt, kann sie eine eigene Entscheidung treffen. Ihre Freiheit ist es, im Rahmen ihrer engen sozialen Grenzen eine Wahl zu haben. Sie entscheidet sich, bei Kuan Kuan zu bleiben.
Der Roman ist spannend. Der lakonische Stil, die Art, wie Yu Ling die Geschehnisse akzeptiert und für sich immer wieder einordnet, führt sie Stück für Stück in einen Erkenntnisprozess, der sie, trotz der widrigen Umstände ihrer Herkunft, in eine persönliche Freiheit führt. Der Junge Kuan Kuan hängt an seinem ‚Schwan‘, hofft, dass er fliegen kann. Doch das Tier bleibt eine Gans, die seine Mutter zum Schluss tötet. Den Jungen lässt Yu Ling in dem Glauben, dass sie weggeflogen sei, was den Jungen tröstet. Er weiß intuitiv zu schätzen, was Freiheit bedeutet