Die Fragilität der Eliten

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Chinesische Literatur, die im deutschsprachigen Raum erscheint, trägt fast immer eine gesellschaftliche oder politische Dimension in sich. Häufig sind es Texte, in denen Autoren die Missstände ihres Landes anklagen oder die Spannungen innerhalb der Gesellschaft sichtbar machen. In diese Tradition fügt sich auch Zhang Yuerans Roman „Schwanentage“ nahtlos ein. Das Werk legt den Schwerpunkt vor allem auf die tief verankerten Klassenunterschiede in der chinesischen Gesellschaft und erzählt davon, wie diese Gräben das Leben der Menschen prägen – bis in die intimsten Beziehungen hinein.
Im Zentrum steht Yu Ling, ein Kindermädchen, das sich mit Hingabe um den Sohn einer wohlhabenden Familie kümmert. Ihre Arbeitgeber sind typische Vertreter der urbanen Elite: Der Hausherr hat sich durch geschäftliche Aktivitäten ein beträchtliches Vermögen aufgebaut, während seine Frau sich künstlerisch betätigt und Porträts malt, ohne dabei sonderlich erfolgreich oder originell zu wirken. Für Yu Ling macht es im Alltag kaum einen Unterschied, ob die Herrschaften anwesend oder unterwegs sind – ihre Rolle bleibt stets die der Dienenden. Sie hat gelernt, sich in dieser Position zurechtzufinden, auch wenn sie insgeheim von einem anderen Leben träumt. Doch sowohl ihre bescheidene Herkunft als auch ihr niedriger Bildungsstand halten sie davon ab, soziale Grenzen zu überschreiten. Hinzu kommt eine dunkle Vergangenheit, die sie unauflöslich mit der Familie verbindet. Denn die Arbeitgeber kennen ein Geheimnis, das sie zur Abhängigkeit zwingt. Gleichzeitig weiß aber auch Yu Ling einiges über die Abgründe ihrer wohlhabenden Dienstherren.
Dieses fragile Gleichgewicht gerät ins Wanken, als der Großvater, der eigentliche Architekt des Reichtums, wegen Korruption verhaftet wird. Plötzlich sind die Rollen nicht mehr klar verteilt: Die vormals Mächtigen verlieren ihren Status, die Zugehörigkeiten innerhalb des Hauses verschieben sich. Yu Ling bleibt zwar weiterhin für den Sohn zuständig, doch eine Bezahlung erhält sie nun nicht mehr. In ihrer Verzweiflung erwägt sie sogar, den Jungen zu entführen, um auf diese Weise kurzfristig Geld zu erpressen. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein ständiges Hin und Her, ein Spiel der Machtverhältnisse, das den Roman bestimmt. Während die gesellschaftliche Ordnung ins Rutschen gerät, scheint nur eines unverändert: der Hausschwan, ein exzentrisches Haustier des Sohnes, der unbeeindruckt von allem Chaos durch den Garten stolziert und so etwas wie eine groteske Konstante verkörpert.
Zhang Yueran entwickelt ihren Roman aus genau diesem Durcheinander heraus. Sie zeigt, wie brüchig ein System ist, das nach außen hin festgefügt und unerschütterlich wirkt, im Inneren jedoch auf instabilen, moralisch verrotteten Fundamenten ruht. Ein Korruptionsskandal reicht aus, um alles ins Wanken zu bringen. Aus Yu Lings Perspektive erzählt, entfaltet sich ein manchmal durchaus amüsantes Panorama, in dem die Verwirrungen und Umbrüche der Oberschicht mit einer gewissen Schadenfreude zu beobachten sind.
Gelegentlich unterbricht die Autorin die Handlung mit Exkursen, in denen Yu Ling über ihre Herkunft, ihre Wünsche und ihre geheimen Gedanken spricht. Dabei wird schnell klar, wie sehr sie ihre Arbeitgeber verachtet – auch wenn sie ihnen das niemals ins Gesicht sagen würde. Diese Einschübe sind jedoch eher knapp gehalten und reichen kaum über die Oberfläche hinaus. So bleibt manches unerschlossen, was dem Roman zusätzliche Tiefe hätte verleihen können. Besonders gegen Ende neigt die Geschichte sogar dazu, ins Slapstickhafte zu kippen. Wenn die Handlung sich plötzlich um die fieberhafte Suche nach einem USB-Stick mit brisanten Daten dreht, wirkt das Geschehen eher wie eine Komödie, die mit leichtfertigen Gags operiert. Dadurch fällt es schwer, das Werk als Ganzes ernst zu nehmen.
„Schwanentage“ erscheint somit weniger als realistische Milieustudie, sondern eher als überzeichnete Parabel über Klassismus. Die Figuren sind stark typisiert, fast karikaturenhaft. Sie stehen nicht für sich selbst, sondern verkörpern gesellschaftliche Rollenbilder. Yu Ling ist die fleißige, unscheinbare junge Frau, die aufgrund ihrer benachteiligten Herkunft um Anerkennung kämpft. Der Hausherr wird zum Stereotyp des oberflächlichen Geschäftsmannes, der ohne besondere Begabung auskommt, dafür aber jede Gelegenheit nutzt, sein Umfeld für eigene Zwecke auszubeuten. Seine Frau wiederum ist die reiche Dame, die sich ein wenig Selbstständigkeit über eine Kunstform sichert, die kaum Talent verrät. Und ihr Sohn entspricht dem Bild des verwöhnten Kindes der Elite, das mit überzogenen Erwartungen konfrontiert ist, sich aber gegen den Druck seines Vaters zur Wehr setzt – etwa, indem es die Pflichtübungen am Klavier mit offenem Widerwillen absolviert.
Durch diese klare Rollenverteilung wirkt der Roman stellenweise eindimensional. Die Handlung entwickelt sich zwar temporeich und unterhaltsam, doch bleibt das erzählerische Spektrum beschränkt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Zhang Yuerans Schreibstil, der überwiegend beschreibend bleibt, ohne tiefere Reflexionen oder komplexe innere Monologe zuzulassen. Die Sprache erinnert eher an leichte Kost als an literarische Feinschmeckerei.
Und dennoch entfaltet „Schwanentage“ seine Wirkung. Gerade die Überspitzung erlaubt es, gesellschaftliche Strukturen deutlich herauszuarbeiten. In den überzeichneten Zügen steckt ein Wahrheitsgehalt, der das Lesen lohnend macht. Das Werk zeigt, wie dünn die Fassade von Wohlstand und Macht sein kann, wie schnell eine vermeintlich stabile Ordnung zerfällt und wie hartnäckig zugleich soziale Grenzen bestehen bleiben. Yu Ling bleibt trotz aller Verschiebungen letztlich die Untergeordnete, gefangen in Abhängigkeiten, die sie nicht zu durchbrechen vermag.
Am Ende ist Zhang Yuerans Roman also ein vielschichtiges, wenn auch nicht immer ausgewogenes Werk: teils Gesellschaftssatire, teils Komödie, teils Kritik am Klassensystem. „Schwanentage“ mag nicht die große literarische Tiefe erreichen, überzeugt aber durch seine pointierte Darstellung sozialer Gegensätze und die humorvolle Schärfe, mit der es die Absurditäten einer privilegierten Welt entlarvt.