Kritischer Blick auf die chinesische Gesellschaft
Zhang Yueran, 1982 geboren, gilt als eine der wichtigsten Stimmen der jungen chinesischen Literatur. Mit „Schwanentage“ kann sie nun der deutsche Leser entdecken und es ist zu hoffen, dass auch ihr Roman „ Cocoon“, den die New York Times zu den besten Büchern des Jahres 2022 gewählt hat, ins Deutsche übersetzt wird.
Im Zentrum von „ Schwanentage“ steht die dreißigjährige Yu Ling, die als Kindermädchen bei einer wohlhabenden und einflussreichen Familie in Peking angestellt ist. Sie kümmert sich liebevoll um den siebenjährigen Sohn Kuan Kuan. Die Eltern, er ein erfolgreicher Geschäftsmann, sie eine ambitionierte, aber wenig erfolgreiche Künstlerin, haben wenig Zeit für ihr einziges Kind und so wundert es kaum, dass der Junge eine intensive Bindung zu seinem Kindermädchen entwickelt hat. Diese aber plant nun mit ihrem Freund zusammen die Entführung des Kindes. Das Lösegeld soll ihnen beiden eine gemeinsame Zukunft ermöglichen. Doch, das ist Yu Ling wichtig, dem Kind soll nichts geschehen. Die Entführung wird als vergnüglicher Ausflug getarnt, aber dann bringt eine Radiodurchsage die Pläne zum Platzen. Der Großvater des Jungen, ein hochrangiges Parteimitglied, wird wegen Korruption verhaftet, der Vater zum Verhör abgeholt und die Mutter taucht unter.
Yu Ling kehrt mit dem Kind in die Villa im noblen Golden Lake Viertel zurück und ist nun ganz allein auf sich gestellt. Den Jungen im Stich zu lassen kommt für sie nicht in Frage. Doch wie soll es weitergehen?
Der Roman wirft einen kritischen Blick auf die chinesische Gesellschaft. Unrechtsbewusstsein scheint es auf allen Ebenen wenig zu geben. So rechtfertigen Yu Ling und ihr Freund die geplante Entführung damit, dass das Geld der reichen Familie von den einfachen Leuten kommt, „ was ist schon dabei, wenn wir uns etwas davon zurückholen?“ Auch ist Yu Ling nicht sehr überrascht über die Anschuldigung gegen ihren Arbeitgeber, viel Geld veruntreut zu haben. „Machen das nicht alle Staatsfunktionäre so? Warum sonst wird man das denn?“
Überall herrscht das Prinzip „ Eine Hand wäscht die andere.“ Reich zu sein bedeutet Einfluss zu haben. Schnell aber kann sich das Blatt wenden.
Allerdings gelten nicht für alle die gleichen Regeln. Wie stark die Klassenunterschiede in der chinesischen Gesellschaft sind, auch das zeigt ausdrucksvoll dieser Roman. Yu Ling hat wenig Chancen auf eine Veränderung ihrer Lebenssituation. Ihre einfache Herkunft und ihre mangelhafte Schulbildung sowie ein dunkler Fleck in ihrer Vergangenheit verhindern dies. Obwohl ihre Arbeitgeber zufrieden sind mit ihrer Leistung, so bekommt sie doch keine Anerkennung dafür. Ein Dienstmädchen oder Kindermädchen mag noch so sehr in den Alltag ihrer wohlhabenden Arbeitgeber eingebunden sein, deren intimsten Geheimnisse kennen, ihre Rolle ist die einer Dienenden, nicht mehr.
Und China mag noch so sehr eine moderne Großmacht sein, Frauen stehen immer noch in der Hierarchie an zweiter Stelle. Yu Ling kämpfte vergebens um die Anerkennung ihres Vaters, ihre Mutter bevorzugt stets den Sohn und ihr Chef behandelt seine eigene Frau mit einer gewissen Herablassung. „ Früher hatte sie (Yu Ling) sich immer gefragt, woher diese Männer eigentlich ihre Autorität nahmen. Sie saßen auf den Stühlen der Macht, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.“
Der Titel „Schwanentage“ ist bewusst mehrdeutig gehalten. Er bezieht sich zum einen auf eine Episode bei dem eingangs geschilderten Ausflug. Der Junge Kuan Kuan befreit dort eine Gans aus einem Tiertransport und hält die Gans fälschlicherweise für einen Schwan. Er richtet ihr ein Zuhause in der Villa ein und für ihn und Yu Ling beginnen die „Schwanentage“, einen Zeitraum, in dem die alten Hierarchien außer Kraft gesetzt sind. Doch so wenig wie aus einer Gans je ein fliegender Schwan werden kann, so wenig kann Yu Ling aus der ihr zugewiesenen Rolle ausbrechen.
Die Autorin überzeugt aber nicht nur mit ihrem Blick auf die chinesische Gesellschaft, sondern auch mit einer Sprache, die zugleich präzise und klar ist, dabei aber Platz für Zwischentöne lässt. Bis zum Ende gibt es immer wieder überraschende Wendungen.
Durch Rückblicke in die Vergangenheit bekommt die Hauptfigur Tiefe und Profil. Aber auch die anderen Charaktere sind wiedersprüchlich und komplex.
Intertextuelle Bezüge schafft Zhang Yueran mit einem Verweis auf den Roman „ Was vom Tage übrig blieb“ vom Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro. Titel und Autor werden zwar nicht genannt, aber eine Parallele gezogen.
„Schwanentage“ liest sich leicht, bietet aber viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren. Ich empfehle den Roman allen, die sich für chinesische Literatur und die Machtstrukturen innerhalb der chinesischen Gesellschaft interessieren.