Bedrohliche Gelassenheit

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In Amira Ben Saouds Debütroman "Schweben" ist der Klimawandel bereits vollzogen, die Menschen wurden dezimiert und leben nun in kleinen Gemeinschaften, den Siedlungen, die sie nicht verlassen dürfen. Ein Nachdenken über ein Draußen und ein Davor ist vom "System" nicht erwünscht, keiner hat nach mehr zu streben und Gewalt gibt es nicht mehr. Verzerrt spiegelt diese seltsam identitäts- und kantenlose Welt das Innerste der Hauptprotagonistin wider: Ihr Name ist ihr abhandengekommen, seitdem sie mit den sogenannten Begegnungen begonnen hat, ein Auftragsjob, in dem sie bis ins kleinste Detail andere Personen verkörpert. Über ihr Leben vor den Begegnungen erfahren die Leser:innen ähnlich wie über die Welt außerhalb der Siedlungen nur sehr wenig, auch scheint das Ich nur – wie vom System erwünscht – wenig über das Draußen und das Davor nachzudenken. Bis einige seltsame Dinge passieren, die ein geradezu apokalyptisches Ende der Siedlungen anzudeuten scheinen...

Von der ersten Seite an verbreitet dieser Roman ein Gefühl, das der Klappentext mit einem eigentlich widersprüchlichen Wortpaar hervorragend beschreibt: eine bedrohliche Gelassenheit. Es ist eine dystopische (utopische?) Welt, in der die Protagonistin, das anfangs namenlose Ich, lebt, und die von Beginn an eine herausragende Sogwirkung auf die Leser:innen erzeugt. So einheitlich und harmonisch die Siedlung wirken will, so brutal werden diese Empfindungen bereits im Prolog durch eine kaltblütige Gewalttat gebrochen. Diese Gewalt zieht sich dann, obwohl sie doch ausgemerzt und verboten sein sollte, in verschiedenen Formen durch den gesamten Roman, angefangen bei den Jüngsten und vielleicht Anfälligsten der Gemeinschaften, den Jugendlichen (jüngere Kinder finden sich interessanterweise im gesamten Buch nicht). Nicht nur die Protagonistin macht anderen etwas vor, auch die ganze Siedlung ist nur Fassade für ein eigentlich kurz vor dem Entzünden stehendes Pulverfass – und verschiedene, geradezu absurde Ereignisse bringen es im Laufe des Buches zum Explodieren. Neben der Gewalt muss die Protagonistin zwischen verschiedensten Themen navigieren, von ihrer eigenen Identitätskrise über toxische Beziehungen bis hin zu Liebesgeschichten.

Während der Anfang herausragend war, ließ die Spannung im Laufe des Romans leider etwas nach. Es gibt Rätsel zu lösen, Absurditäten zu durchschauen, die allerdings nicht alle eine Auflösung erfahren. Das muss ein guter Roman auch nicht zwingend leisten, dieser hier will eindeutig mehr zum eigenen Nachdenken anregen als Lösungen präsentieren, und doch ist auf 190 Seiten einfach nicht genug Platz, um den Leser:innen genügend Anreize mitzugeben. So bleiben einige Elemente, insbesondere das erzählende Ich, unvollständig und unverständlich, das Ende kommt zu schnell. Zum Schluss blieb ich mit dem unzufriedenen Gefühl zurück, dass mir noch immer einige Puzzlestücke zum selbstständigen Zusammensetzen des Bildes fehlen.

Fazit: Amira Ben Saoud hat mit ihrem Debüt einen vielschichtigen Roman geschaffen, der anfänglich eine starke Sogwirkung entwickelt und in dem sich Protagonistin und Welt erstaunlich gut zu spiegeln scheinen. Mit ein paar mehr Einblicken, einigen zusätzlichen Seiten, in denen die aufgebaute Bedrohung noch mehr Zeit hat zu wirken und in denen den Leser:innen noch mehr an die Hand gegeben worden wäre, hätte er bei mir locker die volle Punktzahl erreicht. So vergebe ich allerdings 3,5 Sterne.