Ich bleibe in der Schwebe

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Gerade habe ich Amira Ben Saouds Schweben aus der Hand gelegt – und fühle mich beklemmt, paranoid, verunsichert. Es erinnert mich an das Gefühl, das mich nach Ishiguros Alles, was wir geben mussten überkam.

Während Ishiguro durch die Länge seines Romans gezwungen war, mehr Kontext zu liefern, lässt mich Schweben mit einer seltsamen Leere zurück. Ich verstehe wenig – vielleicht gar nichts – und doch wirkt es nach. Ich bin weiterhin auf der Suche, nach den Kernthesen, der Moral nach der Nachricht, die Saoud mir mit dem Roman überbringen möchte. So sehr, dass ich mir, nachts um zwei an einem Samstag, einen Kaffee machen musste, um irgendwie wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

Doch genug der Gefühligkeit – sie soll nur als Appetizer dienen für das, was folgt: mein Versuch einer Analyse.

Zunächst: Lieber ein Roman, der mich emotional überfordert, als einer, der mich zu Tode langweilt. Und so ist es letztlich ein gutes Zeichen, dass Schweben etwas mit mir gemacht hat. Saoud gelingt es, ihre Leser:innen nicht nur zu fordern, sondern regelrecht herauszufordern – mit Stil, Thema und psychologischer Tiefe.

Allerdings sollte gesagt sein: Schweben ist nichts für schwache Nerven. Der Klappentext deutet zwar eine dystopische Handlung und zwischenmenschliche Themen an, doch das tatsächliche Ausmaß der emotionalen und inhaltlichen Wucht wird darin nicht annähernd greifbar. Wer eine Dystopie à la Suzanne Collins erwartet, wird (und sollte!) überrascht werden.

Zentral ist nicht nur der Klimawandel als drängendes Hintergrundrauschen. Vielmehr geht es um Gewalt – insbesondere häusliche Gewalt. Saoud schreibt darüber mit einer fast schmerzhaften Präzision. Sie zeigt das Leiden, das Festhängen, das Nicht-Gehen-Können, das leider eine typische Dynamik in gewaltvollen Beziehungen illustriert. Es gibt zwei Szenen, in denen sexuelle Gewalt explizit thematisiert wird. Daher an dieser Stelle eine inhaltliche Triggerwarnung.

Gleichzeitig beeindruckt die Autorin durch die Feinfühligkeit, mit der sie komplexe zwischenmenschliche Beziehungen beschreibt – oft so treffsicher, dass man das Gefühl hat: Ja, genau so fühlt es sich an – aber man selbst hätte es nie so ausdrücken können.

Neben der individuellen Ebene entfaltet Schweben auch eine strukturelle Kritik: an patriarchalen Machtverhältnissen, an psychischer Manipulation und gesellschaftlicher Gewalt. Besonders stark war für mich etwa die Stelle, in der die Erzählerin sich fragt: „Unsicher war ich mir, ob Emma wirklich ‚wahnsinnig‘ geworden war, oder ob Gil ihr das nur unterstellt hatte – wie viele Männer Frauen Irrationalität unterstellen, wenn sie sie nicht lenken können.“

Darüber hinaus hat der Roman eine deutlich politische Dimension. Er verhandelt nicht nur das Private als politisch, sondern zeigt auch, wie Klimakrise, soziale Kälte und systemische Ungleichheit zusammenwirken – subtil, aber eindringlich. Schweben ist dadurch nicht nur ein literarischer Text, sondern auch ein Kommentar zu unserer Gegenwart: zur Rolle von Sprache in Machtverhältnissen, zur Unsichtbarkeit von weiblichem Leid, zur politischen Verantwortung von Intimität.


Mein Fazit:

Schweben ist kein Roman, der sich schwer lesen lässt – aber einer, der sich schwer verstehen lässt. Und das ist Absicht. Amira Ben Saoud zwingt ihre Leser:innen, genau hinzusehen, zu fühlen, zu zweifeln. Sie schreibt nicht für den schnellen Effekt, sondern für das langfristige Nachhallen.

Trotz meiner Freude und der anregenden Begeisterung, die ich verspüre, wenn meine Interpretationsfähigkeit herausgefordert wird, hätte ich mir an einigen Stellen doch genauere Antworten gewünscht – und die Möglichkeit, sich sicherer zu sein mit dem, was man als Kern des Romans identifiziert. Bei so viel Message zwischen den Zeilen, bei so viel latenter Kritik, die sich in den Beziehungen und Strukturen abbildet, fehlt mir an manchen Stellen diese eine klare Botschaft – oder wenigstens mehrere greifbare Kernbotschaften. Saoud lässt mich damit in der Schwebe. Aber vielleicht ist genau das ihre Absicht.

Ein Roman, der verwirrt, überfordert – und der noch lange nachhallt. Wer bereit ist, sich auf das Unausgesprochene einzulassen, wird bei Schweben fündig - und bleibt trotzdem irgendwie suchend zurück.