Zwischen den Zuständen

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„Schweben“ von Amira Ben Saoud ist ein leiser, gleichzeitig eindringlicher Roman – einer, der auch zwischen den Zeilen erzählt wird. Er spielt nicht in einer konkreten Zukunft oder Vergangenheit, sondern in einem Jetzt, das sich oft seltsam entrückt anfühlt. Das Buch vermittelt das Gefühl, mittendrin zu sein – und doch irgendwie abgehoben, schwebend eben.
Ben Saouds Stil ist beinahe teilnahmslos, gleichzeitig glasklar und präzise beobachtend. Sie schreibt mit einer ruhigen, fast distanzierten Sprache, die gerade deshalb so tief trifft. Weil man beim Lesen plötzlich selbst beginnt, anders zu schauen, zu denken, zu fühlen – als hätte die Sprache der Protagonistin sich in die eigene Wahrnehmung eingeschlichen.

Im Zentrum steht eine Frau, deren Leben sich nicht linear entfaltet, sondern in Rollen, in Zuständen, in Versionen. Sie ist all die Frauen, die sie sein soll, sein könnte, geworden ist – und doch keine davon. Ihre Identität entsteht aus der Summe der Zuschreibungen, Erwartungen und Projektionsflächen, die ihr die Welt zuweist. Es ist faszinierend und zugleich erschreckend, wie das Aussen sich in das Innere frisst, wie Vorgaben zur Überzeugung, Anpassung zur Notwendigkeit wird. Wie wenig es braucht, bis ein Leben, das man nie bewusst gewählt hat, sich anfühlt wie das eigene.

Besonders eindringlich – und verstörend realistisch – beschreibt der Roman die Dynamik einer Gewaltbeziehung. Nicht dramatisch überzeichnet, sondern erschreckend logisch. Die inneren Erklärungen, das „Ich blieb, weil …“, die Rechtfertigungen vor sich selbst – all das wirkt beklemmend nachvollziehbar. Und es zeigt, dass Gewalt oft nicht laut und offensichtlich ist, sondern schleichend, banal und alltäglich.

Kunstfertig subtil und gleichzeitig ein- und nachdrücklich blitzt immer wieder eine kritische Betrachtung von Gesellschaft auf der grossen Bühne auf. “Weil man sich nicht mit dem Unmöglichen arrangieren darf” – dieser Satz hallt lange nach. Ist dieses Unmögliche die Wiederholung von Geschichte, das Einreissen zivilisatorischer Selbstverständlichkeiten, das Akzeptieren von Zuständen, die wir zuvor für undenkbar hielten? Oder ist es eine vermeintliche Chance, die wir in unserer Erschöpfung und Orientierungslosigkeit in ihr Gegenteil verkehren? Solange wir schweigen, bleibt vielleicht noch die Illusion, dass das, was längst geschieht, doch noch aufzuhalten wäre.

„Schweben“ ist ein Roman, der sich nicht klar einordnen lässt – er lebt von Zwischentönen, von Andeutungen, von dem Schweigen zwischen den Sätzen. Und gerade das macht ihn so kraftvoll. Seine Wirkung entfaltet sich nicht in einem grossen Plot, sondern in der Atmosphäre und in Momenten der Irritation, der Traurigkeit und der Klarheit. Ein ungewöhnliches, forderndes Buch – entstanden aus Alltagsbeobachtung, existenzieller Verlorenheit und politischer Reflexion. Und gerade deshalb so wertvoll.

Ich bedanke mich beim Zsolnay-Verlag für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung bleibt natürlich und wie immer trotzdem meine eigene.