Ein ganzes Frauenleben, vor, in und nach der DDR - bewegend und authentisch
"Schwebende Lasten" von Annett Gröschner ist ein Roman, der bei mir noch stark nachwirkt, nachdem ich ihn vor etwa einer Woche fertig gelesen habe. Nüchtern und sachlich, aber gerade dadurch auch emotional enorm berührend, wird das Leben der fiktiven Hanna Krause geschildert, die prototypisch für so viele Frauen ihrer Generation aus dem ehemaligen Ostdeutschland stehen könnte. Hanna ist um 1913 geboren und sie stirbt irgendwann nach der Wende. Wie viele Zeitenwandel, Krisen und Katastrophen, wie viele Umbrüche und vor allem wie viel Leid hat diese tapfere Frau erlebt!
Ich selbst bin aus Österreich und habe mit der DDR nichts zu tun... doch dieses Buch hat mir auch die Sprachlosigkeit meiner eigenen Vorfahren nahegebracht, von denen manche eine ähnliche Generation wie Hanna waren. Diese multiplen Traumen, die sie erlebt haben... dazu die Not und das Elend und eine Zeit, die erforderlich machte, hart und stark zu sein und anzupacken, um selbst und mit der eigenen Familie zu überleben - kein Wunder, dass da noch wenig Zeit und Raum für Traumaverarbeitung und die Konfrontation mit der eigenen verwundeten Seele war... und oft auch wenig Raum dafür, sich noch einmal auf tiefe Beziehungen einzulassen, wenn man mal mehrere geliebte Menschen verloren hatte.
Für diese Rezension habe ich nach passenden Zitaten aus dem Buch gesucht und dabei noch einmal bemerkt, über was für eine eindringliche Sprache dieses Buch verfügt, z.B.
S. 42: "An solchen Abenden musste er auf der Küchenbank schlafen. Eine bessere Form der Geburtenkontrolle kannte Hanna nicht."
Hanna arbeitet erst als junges Mädchen als Aushilfe im Blumenladen ihrer halben Schwester, dann heiratet sie jung und bekommt die ersten Kinder. Verhütung gibt es nicht, Abtreibung ist verboten (Hanna wird dennoch mehrere haben), regelmäßiger Geschlechtsverkehr wird erwartet und so folgt eine Schwangerschaft auf die nächste, auch in Zeiten von Krieg und Not, in denen nicht klar ist, wie ein weiteres Kind durchgebracht werden soll. Insgesamt wird Hanna sechs Kinder zur Welt bringen, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichen.
Dann im Krieg, S. 109: "Das war noch nicht alles, dachte Hanna in der Notunterkunft, da kommt noch mehr, und sie sollte recht behalten. Das war erst der Anfang."
Durch das ganze Buch und durch Hannas Leben zieht sich die Liebe zu den Blumen. Passend dazu wird jedes Kapitel mit der Vorstellung einer Blumenart eingeleitet. Zwar kann Hanna nur ganz am Anfang ihres Lebens tatsächlich als Blumenhändlerin arbeiten, doch findet sie immer wieder Wege, sich dennoch mit dem Thema zu beschäftigen und ihr Wissen dazu weiter zu kultivieren und einzubringen, etwa durch die Pflege eines Gemeinschaftsgartenstückchens nahe ihrer Wohnung im Plattenbau in der DDR. Und auch im Krieg und im Angesicht von Zerstörung, Tod und tiefstem Elend ist die Verbindung zu den Blumen das, was Hanna aufrecht hält: "Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung." (S. 126)
In der DDR ergreift Hanna einen ursprünglich typischen Männerberuf, denn mit diesem kann sie mehr Geld für ihre Familie verdienen. Sie wird Kranfahrerin, hier zeigt sich der Bezug zum Titel des Buches, und wir erleben auch diesen Arbeitsalltag von ihr mit: "Die Kranbahn über ihr, die daran befestigten grünen Lampen, die Meisterbude rechts unten, die Drehmaschinen, die Werkstücke, die Gabelstapler und die Männer mit den Helmen, die zu ihr heraufwinkten. Sie war die einzige Frau, sie verteidigte bei der Prüfung ihr Geschlecht, sie war dabei, ins kalte Wasser zu springen." (S. 167)
Auch hier zeigt sich wieder eine klassische Qualität Hannas: sie ist anpackend, tüchtig und mutig, scheut nicht vor Herausforderungen zurück und ist bereit, sich beruflich in neue Gebiete vorzuwagen und sich zu entwickeln. Das sind Eigenschaften, die sie in ihrem Privat- und Berufsleben zeigt.
Sonderlich politisch ist Hanna aber nicht und lehnt sich weder gegen das NS-Regime auf noch setzt sie sich in der DDR für mehr Freiheit ein. Ambitionen, die DDR zu verlassen, hat sie auch keine. Sie ist eine, die sich auch sehr gut mit dem herrschenden System arrangieren kann und damit insgesamt eine ambivalente Persönlichkeit. Ein bei ihr kurz verstecktes jüdisches Mädchen schickt sie auf die Straße, nachdem der Blockwart sie darauf angesprochen hat. Später aber gibt sie hungernden Arbeiterinnen aus Polen und der Ukraine Brot. So zeigt sich in Summe eine Frau, wie es sie viele gegeben haben könnte, mit ihren menschlichen Stärken und Schwächen. Genau diese Authentizität macht das Buch in Summe auch aus.
Außerdem mochte ich an dem Buch, wie deutlich es die vielen politischen und ökonomischen Umbrüche aufzeigt, die Menschen dieses Geburtsjahrganges erlebt haben - das muss eine unglaubliche Anpassungsleistung erfordert haben.
Als Hanna schon eine alte Frau von fast 80 Jahren ist, kommt es zur Wende und damit zur Wiedervereinigung. Wieder ein Systemwechsel für Hanna. Ihr ganzes Leben lang hat sie geübt, sich mit den wechselnden Umständen abzufinden und sich anzupassen und so nimmt sie es auch jetzt hin, als Investoren aus dem Westen die Blockbauten mitsamt ihrer Wohnung kaufen, renovieren und die Miete erhöhen möchten und ihren liebevoll angelegten Blumengarten vernichten: "Als die Mietergärten verschwanden, wehrte sie sich nicht. Sie blieb einfach auf dem Sofa sitzen und sah sich bei ausgestelltem Ton die Showsternchen im Fernsehen an. Sie zog die Vorhänge zu, hörte aber, wie die Gartenarbeiter die Pflanzen mit der Wurzel ausrissen."
Mit jeweils wenigen Worten gelingt es der Autorin damit, ein eindringliches Bild der jeweiligen Zeit zu malen. Viele Details, aber vor allem die Atmosphäre dieses beeindruckenden Buches wirken in mir tief nach. Es sind viele harte Bilder, von Tod und Zerstörung, einem Magdeburg, das dem Erdboden gleich gemacht wurde, vielen Jahren der Entbehrung, einem langsamen Aufschwung und zaghafter Hoffnung, wirtschaftlich etwas besseren Zeiten mit wenig Freiheit und doch hin und wieder ein bisschen Raum für Individualität, wie beim Anlegen der Blumengärten. Ganz viel Sich-Abfinden mit den Umständen, Akzeptieren und das Beste aus dem machen, was möglich ist.
Es ist ein wichtiges Buch, ein besonderes Buch, das dazu beitragen kann, Verständnis und Empathie zwischen den Generationen zu fördern und uns allen noch einmal anders spürbar zu vermitteln, woher unsere Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern kommen und was sie geprägt haben könnte, sodass sie so wurden, wie wir sie erlebt haben und sie schlussendlich uns geprägt haben. Hanna steht hier als Beispiel für ganz viele. Danke für dieses Buch!
Ich selbst bin aus Österreich und habe mit der DDR nichts zu tun... doch dieses Buch hat mir auch die Sprachlosigkeit meiner eigenen Vorfahren nahegebracht, von denen manche eine ähnliche Generation wie Hanna waren. Diese multiplen Traumen, die sie erlebt haben... dazu die Not und das Elend und eine Zeit, die erforderlich machte, hart und stark zu sein und anzupacken, um selbst und mit der eigenen Familie zu überleben - kein Wunder, dass da noch wenig Zeit und Raum für Traumaverarbeitung und die Konfrontation mit der eigenen verwundeten Seele war... und oft auch wenig Raum dafür, sich noch einmal auf tiefe Beziehungen einzulassen, wenn man mal mehrere geliebte Menschen verloren hatte.
Für diese Rezension habe ich nach passenden Zitaten aus dem Buch gesucht und dabei noch einmal bemerkt, über was für eine eindringliche Sprache dieses Buch verfügt, z.B.
S. 42: "An solchen Abenden musste er auf der Küchenbank schlafen. Eine bessere Form der Geburtenkontrolle kannte Hanna nicht."
Hanna arbeitet erst als junges Mädchen als Aushilfe im Blumenladen ihrer halben Schwester, dann heiratet sie jung und bekommt die ersten Kinder. Verhütung gibt es nicht, Abtreibung ist verboten (Hanna wird dennoch mehrere haben), regelmäßiger Geschlechtsverkehr wird erwartet und so folgt eine Schwangerschaft auf die nächste, auch in Zeiten von Krieg und Not, in denen nicht klar ist, wie ein weiteres Kind durchgebracht werden soll. Insgesamt wird Hanna sechs Kinder zur Welt bringen, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichen.
Dann im Krieg, S. 109: "Das war noch nicht alles, dachte Hanna in der Notunterkunft, da kommt noch mehr, und sie sollte recht behalten. Das war erst der Anfang."
Durch das ganze Buch und durch Hannas Leben zieht sich die Liebe zu den Blumen. Passend dazu wird jedes Kapitel mit der Vorstellung einer Blumenart eingeleitet. Zwar kann Hanna nur ganz am Anfang ihres Lebens tatsächlich als Blumenhändlerin arbeiten, doch findet sie immer wieder Wege, sich dennoch mit dem Thema zu beschäftigen und ihr Wissen dazu weiter zu kultivieren und einzubringen, etwa durch die Pflege eines Gemeinschaftsgartenstückchens nahe ihrer Wohnung im Plattenbau in der DDR. Und auch im Krieg und im Angesicht von Zerstörung, Tod und tiefstem Elend ist die Verbindung zu den Blumen das, was Hanna aufrecht hält: "Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung." (S. 126)
In der DDR ergreift Hanna einen ursprünglich typischen Männerberuf, denn mit diesem kann sie mehr Geld für ihre Familie verdienen. Sie wird Kranfahrerin, hier zeigt sich der Bezug zum Titel des Buches, und wir erleben auch diesen Arbeitsalltag von ihr mit: "Die Kranbahn über ihr, die daran befestigten grünen Lampen, die Meisterbude rechts unten, die Drehmaschinen, die Werkstücke, die Gabelstapler und die Männer mit den Helmen, die zu ihr heraufwinkten. Sie war die einzige Frau, sie verteidigte bei der Prüfung ihr Geschlecht, sie war dabei, ins kalte Wasser zu springen." (S. 167)
Auch hier zeigt sich wieder eine klassische Qualität Hannas: sie ist anpackend, tüchtig und mutig, scheut nicht vor Herausforderungen zurück und ist bereit, sich beruflich in neue Gebiete vorzuwagen und sich zu entwickeln. Das sind Eigenschaften, die sie in ihrem Privat- und Berufsleben zeigt.
Sonderlich politisch ist Hanna aber nicht und lehnt sich weder gegen das NS-Regime auf noch setzt sie sich in der DDR für mehr Freiheit ein. Ambitionen, die DDR zu verlassen, hat sie auch keine. Sie ist eine, die sich auch sehr gut mit dem herrschenden System arrangieren kann und damit insgesamt eine ambivalente Persönlichkeit. Ein bei ihr kurz verstecktes jüdisches Mädchen schickt sie auf die Straße, nachdem der Blockwart sie darauf angesprochen hat. Später aber gibt sie hungernden Arbeiterinnen aus Polen und der Ukraine Brot. So zeigt sich in Summe eine Frau, wie es sie viele gegeben haben könnte, mit ihren menschlichen Stärken und Schwächen. Genau diese Authentizität macht das Buch in Summe auch aus.
Außerdem mochte ich an dem Buch, wie deutlich es die vielen politischen und ökonomischen Umbrüche aufzeigt, die Menschen dieses Geburtsjahrganges erlebt haben - das muss eine unglaubliche Anpassungsleistung erfordert haben.
Als Hanna schon eine alte Frau von fast 80 Jahren ist, kommt es zur Wende und damit zur Wiedervereinigung. Wieder ein Systemwechsel für Hanna. Ihr ganzes Leben lang hat sie geübt, sich mit den wechselnden Umständen abzufinden und sich anzupassen und so nimmt sie es auch jetzt hin, als Investoren aus dem Westen die Blockbauten mitsamt ihrer Wohnung kaufen, renovieren und die Miete erhöhen möchten und ihren liebevoll angelegten Blumengarten vernichten: "Als die Mietergärten verschwanden, wehrte sie sich nicht. Sie blieb einfach auf dem Sofa sitzen und sah sich bei ausgestelltem Ton die Showsternchen im Fernsehen an. Sie zog die Vorhänge zu, hörte aber, wie die Gartenarbeiter die Pflanzen mit der Wurzel ausrissen."
Mit jeweils wenigen Worten gelingt es der Autorin damit, ein eindringliches Bild der jeweiligen Zeit zu malen. Viele Details, aber vor allem die Atmosphäre dieses beeindruckenden Buches wirken in mir tief nach. Es sind viele harte Bilder, von Tod und Zerstörung, einem Magdeburg, das dem Erdboden gleich gemacht wurde, vielen Jahren der Entbehrung, einem langsamen Aufschwung und zaghafter Hoffnung, wirtschaftlich etwas besseren Zeiten mit wenig Freiheit und doch hin und wieder ein bisschen Raum für Individualität, wie beim Anlegen der Blumengärten. Ganz viel Sich-Abfinden mit den Umständen, Akzeptieren und das Beste aus dem machen, was möglich ist.
Es ist ein wichtiges Buch, ein besonderes Buch, das dazu beitragen kann, Verständnis und Empathie zwischen den Generationen zu fördern und uns allen noch einmal anders spürbar zu vermitteln, woher unsere Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern kommen und was sie geprägt haben könnte, sodass sie so wurden, wie wir sie erlebt haben und sie schlussendlich uns geprägt haben. Hanna steht hier als Beispiel für ganz viele. Danke für dieses Buch!