Geschichtsschreibung von unten

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leukam Avatar

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Warum es dieser Roman nicht auf die Liste für den Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Umso mehr hoffe ich, ihn auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis zu finden.
Schon auf der ersten Seite wird uns die komplette Biographie der Hanna Krause im Schnelldurchlauf präsentiert, um sie dann auf den kommenden beinahe dreihundert Seiten mit Leben zu füllen. Geboren noch im Kaiserreich 1913, hat sie zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, zwei Demokratien und zwei Weltkriege erlebt und überlebt, dabei viel Schlimmes durchgemacht, aber nie gejammert oder resigniert, sondern sich in das Unvermeidliche gefügt und alles getan, um ihre Familie durchzubringen und zusammenzuhalten.
In ärmliche Verhältnisse hineingeboren, wird sie früh elternlos. Ihre wesentlich ältere Stiefschwester wird sie bei sich aufnehmen. Dafür muss Hanna schon als Kind im schwesterlichen Blumengeschäft mitarbeiten. Und dabei wird der Grundstock gelegt für ihre beständige Leidenschaft für die Blumen. Sie sind ihr Trost und Freude bis an ihr Lebensende. „ …dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung.“
In Berlin lernt sie Karl kennen, beide heiraten und ziehen zurück nach Magdeburg. Hier im Knattergebirge, dem Armenviertel der Stadt, eröffnen sie einen kleinen Blumenladen und Hanna ist sehr erfindungsreich, um ihre Sträuße an den Mann zu bringen. Aber auf Karl kann sie nicht bauen. Er vertrinkt und verspielt das bisschen Geld, das sie einnehmen, ist nicht immer treu und wird schon vor Kriegsbeginn durch einen Arbeitsunfall zum Invaliden.
Die Kriegszeiten dann stellen die immer größer werdende Familie vor große Herausforderungen. Wie die Autorin diese Zeit beschreibt, gehört mit zum Eindringlichsten des Romans. Bei der Bombardierung Magdeburgs wird Hanna mit ihren Kindern in einer Kirche verschüttet und ihr ältester Sohn kommt im Feuersturm um. Nur vier ihrer sechs Kinder überleben den Krieg.
Im neuen Staat wird aus der Blumenbinderin Hanna eine Kranführerin, kein typischer Frauenberuf. Doch auch in der DDR fehlen Männer und die Arbeit wird gut bezahlt. Hanna fühlt sich wohl da oben, endlich einmal ein „ Raum für sich allein“. Zwanzig Jahre wird sie diese Arbeit machen, ihre Kinder großziehen und als ihr Mann tot ist und ihre Töchter aus dem Haus sind, kann sie ein selbstbestimmtes Leben führen und nochmals ihrer Liebe zur Blumenbinderei nachgehen.
Was Annett Gröschner hier erzählt ist ein Frauenschicksal, das exemplarisch steht für viele. Hanna ist eine Frau aus dem Volke, eine aus dem Heer der zahllosen Arbeiterinnen, die vergessen werden bei der Geschichtsschreibung, die aber den Laden am Laufen halten. Sie ist keine Heldin, nur eine Frau, die versucht in all den Umbrüchen „ anständig zu bleiben“.
Doch die Autorin beschreibt nicht nur eine private Geschichte; der gesellschaftspolitische Hintergrund spielt immer mit, er bestimmt das Leben der Figuren. Das alles wird wunderbar miteinander verwoben.
Zusammengehalten wird das Ganze durch ein Stilleben eines holländischen Meisters. In einer Schlüsselszene des Romans betritt eines Tages im Jahr 1938 ein mysteriöser Herr Hannas Blumenladen und er hat einen ungewöhnlichen Auftrag. Sie solle einen Strauß binden, der dem auf einer Postkarte entspricht: „Ambrosius Bosschaert ( 1573-1621), Vaas met bloemen“, steht auf deren Rückseite. Die Schwierigkeit für Hanna besteht darin, dass die Blumen zu völlig unterschiedlichen Zeiten blühen. Nach einem großzügigen Vorschuss setzt Hanna alles daran, den Auftrag zu erfüllen. Der Kunde wird nicht wiederkommen, aber Hanna bekommt dafür eine Ahnung von einer Welt außerhalb ihres gewohnten Umfelds, einer Welt der Schönheit und der Kunst . Dieses Stilleben gibt dem Roman seine Struktur, ist doch jedem Kapitel die Beschreibung einer Blume aus dem Gemälde vorangestellt.
Der Roman liest sich leicht, schon allein durch die chronologische Erzählweise und die Konstanz in der Perspektive. Alles wird aus Hannas Sicht erzählt, so bleiben wir immer ganz dicht bei ihr. Die Sprache ist nüchtern und lakonisch, ohne jegliche Sentimentalität, dafür mit einem ganz eigenen Witz. Die Autorin vermeidet es zu psychologisieren. Was in Hanna vorgeht, wird nicht ausbuchstabiert, doch wir ahnen, wie es in ihr aussieht. Es geht selten um ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte, dafür ist sie zu sehr gefangen in einem Netz aus Verpflichtungen und Fürsorge. Mag sie auch manchmal hart erscheinen, hart gegenüber sich selbst und anderen, so tut sie doch alles, um die Ihren zu schützen und zu versorgen.
Annett Gröschner erzählt dieses Frauenleben ungeheuer lebendig und plastisch, mit einem Gespür für ausdrucksstarke Szenen und Episoden.
Der poetische Titel entstammt aus der Sprache des Arbeitsschutzes und bezieht sich auf Objekte, die beispielsweise von Kränen gehoben werden. Gleichzeitig verweist das poetische Paradoxon, auf all das, was Hanna in ihrem Leben aufgebürdet wurde.
Der Roman ist außerdem eine Liebeserklärung an Magdeburg, die Geburtsstadt der Autorin.
Und wer wissen möchte, wie der Alltag für viele in den beiden Diktaturen aussah, ist nach der Lektüre schlauer. Gerade Westdeutsche erfahren hier viel Unbekanntes, abseits der üblichen Klischees, über den Alltag in der DDR.
„ Schwebende Lasten“ ist ein großartiger Roman über eine beeindruckende, starke Frau und über das vergangene Jahrhundert. Lesen? Unbedingt!