Aufarbeitung der Vergangenheit

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Der Roman "Schwestern bleiben wir immer" von Barbara Kunrath offenbart schon auf dem Titelbild vieles, was eine Rolle spielen wird: So sieht man auf dem Bild die Rückenansicht von zwei Mädchen, die ganz nah aneinander, einander im Arm haltend, auf einer Stange oder etwas Ähnlichem sitzen und auf etwas blicken, was man nicht sieht. Enge Verbundenheit, Nähe, Füreinanderdasein und Gemeinschaft werden dadurch ausgedrückt. Der Titel deutet an, dass etwas von dem, was die Gemeinsamkeit von Schwestern ausmacht, immer bleiben wird. Allerdings impliziert der Titel auch ein Aber oder ein Auch-Wenn.

Bevor man nun in die Handlung des Romans einsteigt, liest man das vorangestellte Zitat "Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert das Rennen." von Thomas Eliot. Dies bekräftigt meinen Eindruck, dass es in dieser Geschichte der beiden Schwestern um etwas gehen wird, was ihre Einheit gestört hat, und dass es darum gehen wird, sich dem, was in der Vergangenheit passiert ist, zu stellen und sich damit auseinanderzusetzen.

Diese Gedanken, die einem beim Betrachten des Titels und Titelbildes kommen, bestätigen sich beim Lesen des Romans.

In dem sehr kurz gehaltenen Prologerfährt man, dass die Mutter der beiden Schwestern Katja und Alexa gestorben ist. Er ist nach einer Seite schon zuende und dann folgt das erste Kapitel, in dem aus der Sicht von Alexa erzählt wird. Im Laufe dieses ersten Monologes von Alexa erhält man schon erste Andeutungen über das Verhältnis der Schwestern: "Als Kind war meine kleine Schwester der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie ist immer noch wichtig, ich liebe sie, das hört nie auf, aber jetzt habe ich Martin und die Kinder." (Seite 13).
Aber ihre Beziehung zu Martin ist seit dem Tod ihres ältesten Kindes Clara, das schwerbehindert war, in einer Krise: "Irgendetwas stimmt nicht mit uns,
mit Martin und mir. Ich weiß nicht genau, wann es anfing. Manchmal verändert sich etwas in unserem Leben, schleichend, ganz ohne Trommel-wirbel und Aufregung, deshalb dauert es unter Umständen sehr lange, bis man etwas bemerkt. (Seite 22) / " Warum fällt es mir immer schwerer, mit Martin zu reden? Und immer leichter, mit ihm zu schweigen? Nein. Ich schweige nicht mit ihm. Es ist kein gemeinsames Schweigen. Jeder schweigt für sich allein. Früher war das anders. Früher, vor Clara. (Seite 23).
Alexa selbst scheint es nicht gutzugehen: "Die Masse und der Rauch haben
sich verzogen, was bleibt, ist ein großes, dunkles Loch irgendwo in meiner Körpermitte." (Seite 22) / "Aber die schweren Gedanken kehren zurück. Sie sind wie schwarzer Teer: Sie kleben und stinken und lassen sich nicht abschütteln." (Seite 26), wie diese Zitate bildreich verdeutlichen.
Und dann erinnert Alexa sich an die Kiste, die ihre Mutter hinterlassen hat und die bei ihr auf dem Dachboden steht."Alles, was Ines zurückgelassen hatte, passte in eine kleine Kiste. Nicht viel für 66 Jahre Leben. Bisher konnte ich mich nicht dazu entschließen, mir den Inhalt anzuschauen. Auch nicht, sie einfach wegzuwerfen. Aber ich weiß, solange sie auf dem Speicher steht, wird sie mir keine Ruhe lassen." (Seite 32).

Alexa öffnet die Kiste und damit rührt damit an ihrer Vergangenheit und der ihrer Schwester Katja, deren Leben auch nicht problemfrei ist, da sie Schwierigkeiten mit ihrem pubertierenden Sohn hat, an den sie nicht rankommt, und Bindungsängste hat.

Beide Schwestern erfahren Dinge, die die Grundfesten ihres bisherigen Lebens erschüttern und die sie dazu zwingen, sich mit sich selbst und ihren eigenen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen.

Inhaltlich ein spannender Roman über Familiengeheimnisse und ihre Folgen, Identität und Selbstauseinandersetzung, der durch die bildreiche Sprache, die die Gefühlslagen der Erzählerinnen untermauert, überzeugt und erzähltechnisch geschickt aufgebaut ist, da die Kapitel abwechselnd aus Alexas und Katjas Sicht erzählt werden und man somit Identifikation mit beiden Charakteren erlangt.