Ein gekränktes Leben

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firlefantastisch Avatar

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„Sekunden der Gnade“ entführt uns nach Amerika in die Stadt Boston, Mitte der 70er Jahre, in der per Gerichtsbeschluss ein Bustransfer angeordnet wird, welcher weiße Kinder in die Schulen Schwarzer bringen soll und umgekehrt, um vermeintlich Diskriminierung abzubauen. Diese Anordnung zieht stattdessen nur weiteren Hass und Angst mit sich. Denn die Stadt ist unterteilt in Stadtteile, in welchen ausschließlich Weiße, Schwarze und jene Weißen leben, die Reichtum und Einfluss besitzen.
Der Zufall entscheidet, wohinein man geboren wird und welchen Verlauf ein einzelnes Leben nehmen kann. Im Falle der Protagonistin Mary Pat führt es in das irische Viertel, einen Ort, der vorwiegend Weißen der Unterschicht vorbehalten ist, in dem Armut, Korruption, Gewalt und Drogen einen großen Raum einnehmen.
Eines Nachts kommt Mary Pats Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Zur gleichen Zeit wird ein junger Schwarzer Opfer eines Verbrechens. Sollte Jules etwas mit dessen Tod zu tun haben? Mary Pat, eine Frau, der jeder Mensch verloren geht, der in ihrem kargen Leben eine Bedeutung hatte, bleibt gebrochen und verzweifelt zurück. Ihr begegnet eine Mauer aus Schweigen. Aus ihrer anfänglichen Ohnmacht gegenüber den Ungerechtigkeiten des Lebens, entwickelt sich Wut und Entschlossenheit, die Wahrheit über das Verschwinden ihrer Tochter herauszufinden.

Lehane führt atmosphärisch und mitreißend die Schichten einer missbräuchlichen, aufgeladenen Gesellschaft aus und entwickelt das Abbild, hierarchischer, systematisch benachteiligender und Abhängigkeiten schaffender Strukturen. Er hat in meinen Augen in diesem Roman ein bemerkenswertes dramaturgisches Geschick bewiesen und vereint Krimielemente mit der Frage nach politischen und sozialen Zusammenhängen. Er schafft ein schonungsloses Gesellschaftspanorama, das mich gut unterhalten zurück lässt, aber angesichts der Frage nach Schuld nachdenklich stimmt.
Mein erster Roman des Autors hat mich vollends überzeugt und wird ganz gewiss nicht mein letzter gewesen sein.