Rassismus hat viele Gesichter

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Es ist das Jahr 1974, es gibt Unruhen in Boston, nachdem Richter W. Arthur Garrity Jr. aufgrund einer Sammelklage entschieden hat, dass künftig schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden sollen und weiße Kinder in schwarze Schulen. Als die 17jährige Jules Fennessy nach einem Treffen mit ihren Freunden nicht nach Hause kommt, setzt ihre Mutter Mary Pat alle Hebel in Bewegung, um sie zu finden. In ihrem irischen Viertel stößt Mary Pat auf eine Mauer des Schweigens und ist außer sich vor Schmerz, als ihr klar wird, dass Jules nicht mehr heimkommt. Sie macht sich auf, die Schuldigen zu finden, um sie zu bestrafen. Zu verlieren hat sie nichts mehr.

„Sie erinnert sich nicht an dieses Mädchen, aber sie spürt es noch in sich. Sie spürt seine Verblüffung und sein Entsetzen. Über den Lärm und die Wut. Den Zornessturm, der sie umtobte und im Kreis herumwirbelte, bis ihr so verdammt schwindlig davon war, dass sie für den Rest ihres Lebens lernen musste, darin zu laufen, ohne hinzufallen.“ (Seite 203)

Dennis Lehane war im Sommer des Jahres 1974 neun Jahre alt, als er mit seinem Vater mitten in die Unruhen geraten ist. Dieses Erlebnis war so erschreckend und angsteinflössend, dass er sich entschlossen hat, die geschichtlichen Fakten mit einer fiktiven Geschichte zu verbinden. Mir waren die historischen Fakten unvollständig bekannt, dieses Buch hat dazu beigetragen, dass ich mich mit dem Thema näher beschäftigt und einiges dazugelernt habe. Wer ebenfalls interessiert ist, mehr darüber zu erfahren, dem empfehle ich, sich das Urteil Morgan gegen Hennigan anzusehen und durchzulesen. Ergänzend verweise ich darauf, dass die damalige Sprache nicht zeitgemäß ist und das N-Wort durchgehend im Gebrauch, was der Story eine Authentizität verleiht, die ansonsten fehlen würde.

Die vorliegende Geschichte fing ganz harmlos an, es gab einen Vorfall, der zunächst von mir als nebensächlich eingestuft wurde, bis eine Wendung kam, die dazu führte, dass die geschilderten Ereignisse plötzlich mit im Vordergrund standen. Die raffinierte Verknüpfung erstaunte mich, gab der Erzählung ab da einen ganz anderen Sinn, als ich vermutet habe. So kam es, dass ich mich unerwarteterweise in einem irischen Krimi wiederfand, der vor Spannung platzte, bis es wieder einen Twist gab, der mich sprachlos machte.

„Einmal blickt er zur Seite, als sie ihn gerade mit einem verstohlenen Lächeln ansieht, und erwägt die Möglichkeit, dass das Gegenteil von Hass nicht Liebe ist. Sondern Hoffnung. Denn Hass braucht Jahre, um sich zu entwickeln, aber Hoffnung kann um die Ecke gefegt kommen, wenn man nicht mal hinsieht.“ (Seite 170)

Ich schwankte zwischen Mitleid, Verständnis und Zorn, fühlte mich machtlos, gefangen in der Spirale von Hass. Ich litt zusammen mit Mary Pat, hielt den ermittelnden Beamten die Daumen, weinte mit trauernden Eltern, schrie mit der Menge, erlebte die Gewalt und platzte vor Wut. Manchmal musste ich innehalten und das Buch zur Seite legen, zu groß waren meine Emotionen; sie überfluteten meinen Körper und Tränen verschleierten meinen Blick. Was für ein Drama, welch eine Tragödie, grandios in Worte gefasst, erzählerisch eine große Wucht. Dieses Buch wird mir lange im Gedächtnis bleiben! Ein Highlight für mich, das fünf Sterne mit Sternchen bekommt und eine Leseempfehlung dazu.