Schnackselhausen ist kein Kuhdorf!

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ismaela Avatar

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In einer übersexten Gesellschaft, in der jeder 10-jährige bereits Pornos in jeglicher Intensität zu jeder Zeit und unbegrenzt im Internet zur Verfügung hat, ist ein Buch wie "Sex Story" fast schon wieder ein bisschen lächerlich-mitleidig - ähnlich dem Dessoukatalog, der am Ende des Buches in einer Comicszene von einem "aufgeklärten" Zeigenossen belächelt wird, wo man doch Youporn und andere Seiten zum persönlichen Amusement nutzen kann. Doch wenn man mit der Lektüre fertig ist - und das ist trotz Comic-Stils nicht in ein paar Minuten getan! - macht sich irgendwie ein anderes Gefühl von Aufgeklärtheit breit. Denn es geht in diesem Buch nicht um das übliche Drei-Minuten-Gerammel der Pornowelt, sondern um eine durchaus wissenschaftliche Aufarbeitung der Sexualität von den Anfängen der Menscheheit bis in die Gegenwart hinein und darüber hinaus, indem ein Blick in die Zukunft gewagt wird.

Philippe Brenot ist Anthropologe, und das merkt man "Sex Story" auch an. Mit viel Humor und Esprit beschreibt er die Trennung von Geschlechtsverkehr rein zu Fortpflanzungszwecken oder Lustgewinn, und beschreibt anschaulich bis leicht drastisch, wie sich die Sexualität im Laufe der Zeit verändert und gewandelt hat. Die einzelnen schlüpfrigen Anekdoten bekannter Zeitgenossen waren interessant und teilweise ein Augenöffner (ich wusste z. B. nicht, dass Casanova ein Kinderschänder war und mit seiner eigenen Tochter ein Kind hatte), doch mehr von Interesse waren die doch gravierenden Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität, und auch, leider, wie die Sexualität dazu beigetragen hat, die Frauen bis in die Jetzt-Zeit zu unterdrücken. Und zwar keine verschämt-kichernde "Pflück-mich-Unterdrückung", sondern eine extrem menschenfeindliche Unterdrückung.

Während Frauen mit vielen Bettgeschichten durchweg als Nutten, Huren und Schlampfen tituliert wurden und werden (z. B. Cleopatra), wird der gleiche Lebenswandel bei Männern als Anerkennung und heimlichem "Das will ich auch" - Geraune anderer Männer toleriert - auch wenn, wie oben bemerkt, diese tollen Hengste Schürzenjäger der übelsten Sorte waren. Bei Ehebruch wurde immer nur die Frau bestraft, bei einer Vergewaltigung war immer nur die Frau schuld, da es "nicht möglich ist, eine erwachsene Frau gegen ihren Willen zu Geschlechtsverkehr zu zwingen" und - und das fand ich sehr interessant - sobald es in der weiblichen Sexualität zur leisesten Lockerung der Zwänge kam, schwenkte die Gesellschaft um, um die Frauen nur noch mehr und härter zu sanktionieren. Dass wir davon heute, im 21. Jahrhundert, immer noch nicht allzuweit weg gekommen sind, ist beschämend.

Die Aufmachung des Buches hat mich sehr angesprochen, die Zeichnungen sind ein richtiger Augenschmaus. Das Cover hätte man, angelehnt an das französische Original, ein bisschen hübscher gestalten können, aber es kommt ja auf den Inhalt an. Leseempfehlung!