Flüsternde Vergangenheit

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Josef Ambacher kämpft mit den Stimmen der Vergangenheit, raue Erinnerungen wispern sie ihm zu, verdrängte Emotionen kratzen sie neu auf, verschwiegene Geschehnisse heben sie empor und alles bewegt sich auf einen konkreten Ort hin: Sibirien. Und doch wird dieser Ort plötzlich von einem grauen Schleier bedeckt, fügt sich nicht mehr richtig zusammen, entgleitet einfach ins Nichts des Vergessens. Dement und schizophren heißt die ärztliche Diagnose, die auch Josefs Ehefrau akzeptiert, die sich nicht erinnern möchte, die Vergangenheit lieber in einen Nebel hüllen möchte. Die Ich-Erzählerin - Josefs Tochter - spürt, dass sich mehr hinter dem Redeschwall des Vaters verbirgt, hört genau hin, liest in den alten Tagebüchern des Vaters, rekonstruiert die lang verschwiegenen Versatzstücke zu einem immer lauter werdenden Chor und weiß, dass dieses Erzähl-Erbe für sie bestimmt ist und auch, dass sie diesem Stimmen-Wirrwarr ihre eigene Stimme entgegensetzen muss.
Vielschichtig erzählt Sabrina Janesch in "Sibir" über Verdrängen und Erinnern, über Erleben und Erzählen, über das Eigentum der Gedanken und die Notwendigkeit des Miteinanderredens. Die Erinnerungen an Krieg, Flucht und Zwangsumsiedlung – die Josef als Kind erlebte, weiten sich durch die jüngere Sicht auf die Familiengeschichte, die die Ich-Erzählerin durch ihre Kindheitseindrücke als „Aussiedlerin“ in einer norddeutschen Kleinstadt gibt. Das Erzählen aus der Retrospektive ermöglicht kritische Distanz und zusätzliche Reflexion. Spannend und nachdenklich stimmend!