Ein Gefühl von Heimat

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
firlefantastisch Avatar

Von

Ich habe bisher nur wenig Literatur über die deutsch-russische Geschichte und noch keinen Roman der Autorin Sabrina Janesch gelesen. Daher begegnete ich dem Buch „Sibir“ mit großer Vorfreude und Neugierde auf etwas Neues. Um es vorweg zu nehmen, meine Erwartungen wurden erfüllt.
In Anlehnung an die eigene Familienbiographie erzählt Janesch die Geschichte des jungen Josef Ambacher, der als Kind gemeinsam mit seinen Großeltern, der Tante und seiner Mutter nach dem zweiten Weltkrieg nach Sibirien, in die kasachische Steppe, verschleppt, ja, regelrecht ausgesetzt wird. Der jüngere Bruder Josefs verhungert bereits beim Transport und seine Mutter geht unmittelbar nach der Ankunft in einem Schneesturm verloren.
Janesch gelingt es, mir von Anfang an die fast unwirkliche Weite und Kargheit der kasachischen Landschaft, die erbarmungslose Kälte, welche Bäume zum Explodieren bringt, den unmenschlichen Hunger, die mühsamen Arbeiten und Gefahren z. B. durch die des Nachts heranschleichenden Wölfe, eindringlich und authentisch näher zu bringen. Sie nimmt mich mit in einen entbehrungsreichen Alltag, der für die deutschen Verschleppten mit harten Repressalien verbunden ist. Hier ist für mich die große Rechercheleistung der Autorin, die dem Schreiben vorausging, deutlich zu erkennen.
Parallel dazu wird in einem zweiten Handlungsstrang die Geschichte Leilas, Tochter des einst nach Sibirien verschleppten jungen Josef, erzählt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Zivilgefangenen gelingt es der Familie Ambacher bereits nach wenigen Jahren der Gefangenschaft nach Deutschland zurückzukehren. Leilas Vater unterstützt Ende der 90er Jahre viele Spätaussiedler dabei, sich in der westlichen Welt wieder zurechtzufinden. Die von Janesch gut herausgestellte Scham über das erlebte Traumata und das Schweigen der Erwachsenen beim Aufeinandertreffen sind für Leila nur schwer zu begreifen. Das Mädchen und ihre Freunde befinden sich als nachfolgende Generation scheinbar zwischen den Welten.
Die zwei Handlungsebenen vervollständigen das Bild des Vertriebenen und Heimkehrers. Das Motiv des Ankommens bzw. Heimkommens und des Wunsches nach Zugehörigkeit, statt eines bloßen „Am-Rand-Stehens“, zeigt Parallelen zwischen beiden Erzählsträngen auf. Der Frage nach Heimat spüren sowohl der junge Josef als auch später seine Tochter Leila in vielerlei Hinsicht nach - ganz gleich wie unterschiedlich ihre jeweilige Kindheit verlaufen ist und in welchen geschichtlichen Bezügen sie steht. Beide finden Antworten auf ihr Suchen und ihre Ungewissheit in Freundschaften zu Gleichaltrigen. Ihre Erfahrungen eines Zusammenhalts und das Gefühl der Verbundenheit hinterlassen, trotz aller Entwurzelung, ein Zeichen von Zuversicht. Damit setzt die Autorin dem harten, kargen Alltag der Steppe die Sensibilität und Zärtlichkeit der Freundschaft gegenüber.