Flüsternde Vergangenheit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
textwerkbremen Avatar

Von

Josef Ambacher kämpft mit den Stimmen der Vergangenheit, raue Erinnerungen wispern sie ihm zu, quälende Geschehnisse kratzen sie auf, verdrängte Schuldgefühle heben sie empor und sie kommen von einem weit entlegenen Ort, der in der kasachischen Steppe liegt. Doch plötzlich wird dieser Ort von einem grauen Schleier bedeckt, fügt sich undeutlich zusammen, entgleitet einfach ins Nichts des Vergessens.
Demenz heißt die vage ärztliche Diagnose für den vor sich hinsprechenden Josef. Die Ich-Erzählerin Leila - Josefs Tochter – spürt jedoch, dass sich mehr hinter dem Reden des Papatschkas verbirgt, hört genau hin, liest in seinen alten Tagebüchern, rekonstruiert das Verschwiegene zu einem lauter werdenden vielstimmigen Chor und weiß, dass dieses Erzähl-Erbe für sie bestimmt ist, aber auch, dass sie diesem Stimmen-Wirrwarr ihre eigene Stimme entgegensetzen muss.

Vielschichtig erzählt Sabrina Janesch in SIBIR über Verdrängen, Erleben und Erzählen, über das Eigentum der Gedanken und die Notwendigkeit des Miteinanderredens. Die Erinnerungen an die verhängnisvollen Verschleppungen deutscher Familien in entlegene Gebiete Russlands – die Josef in den 1940er Jahren erlebte, weiten sich durch die jüngere Sicht auf die Familiengeschichte, die Leila durch ihre Kindheitseindrücke als „Rückkehrerin“ in einer norddeutschen Kleinstadt ergänzt. Als in den 1990ern „Neuankömmlinge“ genau aus der einstigen Dorfgemeinschaft in Kasachstan kommen, in die auch Josef mit seiner Familie verschleppt wurde, durchwirken sich für alle Beteiligten Gegenwart und Vergangenheit.

Gekonnt und fließend verschränkt die Autorin drei Zeitebenen deutscher (Familien)Geschichte. Insbesondere das retrospektive Erzählen ermöglicht kritische Distanz und zusätzliche Reflexion. Ein Mehrgenerationenroman, der historisches wie subjektives Erleben nah an den einzelnen Figuren und ihren verschiedenen Lebensphasen spürbar macht. Mich persönlich haben vor allem die Schilderungen des unglaublichen Alltages der Kriegsgefangenen in Kasachstan beeindruckt, ein bisher abstrakter Raum deutsch-russischer Geschichte.

[unbezahlte Werbung]
Danke an @vorablesen und den @rowohltverlag für das Rezensionsexemplar