Fremd in Kasachstan und Norddeutschland

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petris Avatar

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Auf Bücher stößt man ja immer auf unterschiedliche Weise. Bei Sibir waren es gleich mehrere Ebenen, die mich angezogen haben. Zuallererst der Titel, Sibirien ist für mich eine Art Sehnsuchtsland, faszinierend, schön, aber auch unglaublich traurig, wenn es um die Geschichte geht. Auch das Cover fand ich spannend und ansprechend, der Klappentext versprach ein spannendes Thema, die Leseprobe gefiel mir sprachlich sehr gut und dann gab es auch schon die eine oder andere ziemlich begeisterte Meinung zum Buch.
In „Sibir“ erzählt Sabrina Janesch eine Geschichte auf zwei Ebenen, im Mittelpunkt stehen einmal der Vater und dann wieder die Tochter, beide in jungen Jahren als Kinder. Josef Ambacher ist 10 als nach 1945 seine deutsche Familie von der Sowjetarmee verschleppt wird. In den Osten, in Richtung „Sibir“. Am Ende landen sie in einem kleinen Dorf in Kasachstan. Der Weg dorthin traumatisch, der kleine Bruder stirbt, die Mutter verschwindet im Schneesturm. Übrig bleiben der Großvater, die Großmutter, eine Tante und eben Josef. Im Dorf werden sie gemieden, sie sind die Deutschen, die Nazis und auch wenn die meisten anderen ebenfalls verschleppt und vertrieben wurden und aus allen Ecken der Sowjetunion kommen, sie werden von allen beäugt. Dem handwerklichen Geschick des Großvaters ist es zu verdanken, dass die Familie überlebt, einem wohlmeinenden Lehrer, der Josefs Potential sieht, ist es zu verdanken, dass Josef gefördert wird und schnell die Sprache lernt. Und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen verdankt er, dass er an diese schweren Jahre auch schöne Erinnerungen hat und viele Dinge auf Deutsch, Russisch und Kasachisch bezeichnet.
Nach 10 Jahren darf die Familie die UdSSR verlassen und siedelt sich mit vielen anderen Rückkehrern in einem norddeutschen Dorf an. Am Rand. Denn sie sind anders, in Deutschland gelten sie als die Russen.
Parallel dazu wird die Geschichte aus der Sicht der Tochter zu Beginn der 90er Jahre erzählt. Wie sie ihre Familie wahrnimmt, wie sie die Geschichten des Vaters aufnimmt. Ihr bester Freund Arnold, ebenfalls aus einer Rückkehrerfamilie, steht ihr zur Seite. Sie sind geprägt von der Vertreibungserfahrungen ihrer Eltern und besessen davon, sich sichere Lager zu bauen, die sie immer mit frischen Vorräten bestücken. Jederzeit fliehen zu können, das gibt ihnen Sicherheit. Obwohl sie schon in Deutschland geboren wurden, sind sie irgendwie fremd. Anders.
Diese zwei Erzählebenen fügen sich harmonisch ineinander, sind beide sehr gelungen und spannend gestaltet. Man sieht die jeweilige Welt durch die Augen der Kinder, die manches nicht verstehen, aber sehr viel beobachten und wahrnehmen. Auch sprachlich ist das hervorragend gelungen. Die Autorin hat sehr genau recherchiert, der Kern der Geschichte ist auch ihre Geschichte, denn ihr Vater hat ebenfalls seine Kindheit in der kasachischen Steppe verbracht. Sie reiste für ihre Recherche nach Kasachstan, bis in das Dorf, wo ihr Vater gelebt hat.
Für mich war der Roman ein richtiges Highlight, ein sehr spannendes Thema, von dem ich bisher recht wenig wusste, großartig erzählt und wunderbar konstruiert mit den unterschiedlichen Erzählebenen.
Definitiv ein Buch ganz nach meinem Geschmack!