Kasachstan und zurück

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Joseph Ambacher ist etwa 9 Jahre alt, als er mit Mutter, Tante und Großeltern im Frühjahr 1945 auf der Flucht vor der herannahenden Roten Armee aus dem Warthegau von eben jener gefangen genommen und nach Kasachstan in Zentralasien deportiert wird. Auf dem tagelangen Transport in Güterzügen bei Eiseskälte und wenig Verpflegung stirbt sein kleiner Bruder an Erschöpfung, und seine Mutter verschwindet kurz nach der Ankunft in einem Schneesturm, um nie wieder aufzutauchen.
In feindlicher Natur und unter ihnen nicht wohlgesonnenen Menschen, deutschen Aussiedlern früherer Generationen, muss sich der traumatisierte Junge mit seinen Angehörigen nun einrichten, denn ihre Verbannung wird zehn Jahre dauern, erst 1955, als Adenauer mit Chruschtschow die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aushandelt, dürfen auch jene Verschleppten nach Hause zurück. Wobei nach Hause nicht der passende Ausdruck ist, denn ihre Heimat gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht für diese Familie: seit Jahrhunderten lebten sie in Galizien, das jetzt zur Ukraine gehört, und dann im Wartheland, was nun ein Teil Polens ist. Zu Hause wird nun der kleine Ort Mühlheide in Niedersachsen, wo sie, zusammen mit anderen Russlandheimkehrern, am Stadtrand siedeln. Am Rand, wo man alles im Blick hat und im Notfall auch schnell die Flucht ergreifen kann …
1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kommen viele Spätaussiedler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Mühlheide, denn es hat sich unter ihnen herumgesprochen, dass dort bereits viele Landsleute sind. Nun wiederholt sich die Situation mit umgekehrten Vorzeichen: 1945 waren Joseph und seine Familie die neuen Deutschen in Kasachstan, 1991 sind sie in Mühlheide die Altsibirer, und die Nachfahren der vormals alteingesessenen Deutschen in Russland sind jetzt die Neuen. Nur eins hat sich nicht geändert: Joseph und seine Leute haben stets Ausgrenzung erfahren, erst in Kasachstan, später in Norddeutschland.
Genau genommen besteht der Roman aus zwei Teilen, der Kindheit Josephs in Kasachstan und der Kindheit seiner Tochter Leila in Mühlheide. Außerdem gibt es eine Rahmenhandlung: Joseph, heutigentags weit über 80, wird dement und soll seine verbleibende Zeit in einer Einrichtung verbringen, so wünscht es seine Ehefrau. Für Tochter Leila ist dies Anlass und letzte Gelegenheit, seine Geschichte aufzuschreiben, die sie sich aus ihren eigenen Erinnerungen und seinen Erzählungen zusammenreimt, welche seltsam ineinanderfließen. Früher gab es mal Tagebücher, doch die hat Joseph, in einem Anfall alles Vergangene hinter sich lassen zu wollen, längst vernichtet.
Bedrückend ist dieses Buch, es handelt von Menschen ohne Heimat, ohne Wurzeln, die nirgendwo und zu keiner Zeit dazugehören. Sabrina Janesch hat sich eines bislang in der Literatur wenig beachteten Themas angenommen. Das finde ich spannend, und ich hoffe sehr, dass sie damit nicht alleine bleibt. Gänzlich neu war es mir nicht, denn ich hatte meinen Erstkontakt mit diesem Thema bereits in den 90ern, damals habe ich das sehr lesenswerte und aufschlussreiche Sachbuch „Verschleppt ans Ende der Welt“ von Freya Klier (Ullstein-Verlag) gelesen. Deshalb war ich so neugierig auf Janeschs Roman. Außerdem hat mich ihr Buch „Katzenberge“ sehr beeindruckt, sie ist also für mich keine Neuentdeckung. Vielleicht bleibt „Sibir“ gerade deswegen insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück, denn mir ist nicht ganz klar, was das Buch genau will. Den Handlungsteil in Kasachstan 1945 finde ich sehr spannend und ausdrucksstark, und ich bedaure, dass die Autorin sich hier lediglich auf das erste Jahr der Ambacherschen Verbannung beschränkt hat, denn über ihr Schicksal in den Folgejahren hätte ich gerne Weiteres erfahren. Leilas Geschichte 1991 dreht sich im Wesentlichen um einen unglücklichen Kinderstreich, der später bereinigt werden soll. Dieser Handlungsstrang gerät manchmal langatmig, z. T. auch langweilig. Es wird vieles angedeutet, um dann am Rand liegengelassen zu werden, ohne die Handlung voranzutreiben, und das ist schade, denn hier hat die Autorin m. E. Potential verschenkt. Beide Teile werden wechselweise erzählt. Für beide Figuren, den jungen Joseph und Leila, ist ein bester Freund sehr wichtig, eine Parallelität, die wohl nicht zufällig gewählt wurde. Wie Leila zu ihrem Namen gekommen ist, wird nicht erlärt. Meines Wissens hat er seinen Ursprung im Arabischen Sprachraum, deshalb finde ich diese Namenswahl hier ungewöhnlich und kann mir den Grund dafür nicht erschließen.
Sabrina Janesch, Jahrgang 1985, ist eine junge Autorin, die man im Auge behalten sollte, jedenfalls hoffe ich, dass noch mehr von ihr kommt. „Sibir“ passt hervorragend in die Zeit, ist aber nach meinem Ermessen nicht ihr stärkstes Buch.