Verschleppt nach Kasachstan

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
ute54 Avatar

Von

Dieser ergreifende Roman von Sabrina Janesch hat mich aufgrund des Klappentextes sehr interessiert, denn auch Mitglieder meiner Familie wurden aus dem Wartheland von der Sowjetarmee nach 1945 nach Sibirien verschleppt. Ein Aspekt wird leider in diesem Werk nicht aufgegriffen, nämlich das Schicksal der Frauen, die massenhaft vergewaltigt, geschwängert und oftmals deswegen zu Tode kamen .
In meinem jetzigen Wohnort gibt es auch viele Russlanddeutsche und Spätaussiedler, die am „Rande“ leben, wie Josef Ambacher es nennt, und sie integrieren sich nur halb, haben ihre eigene Kirche, heiraten untereinander und sprechen oftmals nur Russisch. Diese Buch hat mir sehr geholfen, ihre Mentalität zu verstehen. In der Sowjetunion waren sie die verhassten Nazis, hier sind sie die Russen.
In „Sibir“ wird die Geschichte der Familie Ambacher in einem flüssigen Schreibstil dargelegt. Man kann sich gut in die differenziert beschriebenen Charaktere hineindenken.
Stammend aus Galizien, wird die Familie im Wartheland von den Sowjets nach Kasachstan verschleppt. Sehr plastisch erfahren wir von der unvorstellbaren Kälte und, im Sommer, von der sengenden Hitze, von Schneestürmen, Erdhütten und der Unwirtlichkeit der Steppe.
Josef Ambacher , 10-jährig bei der Verschleppung, erlebt eine abenteuerliche Kinder- und Jugendzeit, und es ist erstaunlich, wie interessiert seine Tochter Leila später in Niedersachsen, nach der Freilassung, all seine Erzählungen aufsaugt. Josefs und Leilas Kindheit werden interessant und gut nachvollziehbar beschrieben, und es wird verständlich, wie auch Leilas Mentalität durch die Kindheitserinnerungen de Vaters geprägt wird.
Die Autorin analysiert geschickt, dass diese Menschen nirgendwo richtig zu Hause sind. Bedingt durch die ständige Anpassung, gehören sie teilweise gleich drei Kulturen an, was durch Josefs Sammeln der Wörter auf Russisch, Kasachisch und Deutsch deutlich wird.
Vergangenheit und Gegenwart der Protagonisten werden miteinander verwoben. Zuerst bewahrt der Vater noch viele Erinnerungsstücke aus Kasachstan auf, verbrennt sie alle plötzlich, sehr zum Leidwesen seiner Tochter, und versucht den kompletten Neuanfang, doch belastet ihn seine Lebensgeschichte sehr, das Vergessenwollen führt zu einer Art geistiger Verwirrung, aber Leila versteht ihn.
Allerdings hat das Buch ein sehr überraschendes Ende, was dem eine besondere Tragik verleiht und den Identifikationskonflikt hervorhebt.
Die mögliche Bedeutung des Covers hat sich mir erst nach der Lektüre erschlossen. Durch die verschiedenen Grüntöne soll wohl die Naturvielfalt in Sibir dargestellt werden. Aber was soll die übergroße Forelle evozieren?
Jedenfalls passt das Cover zu dem Roman, den ich allen an der Problematik von Vertreibung und Existieren in einer fremden Welt nur empfehlen kann, besonders, da es derzeit ja sehr viele Flüchtlinge und Immigranten in Deutschland gibt.