Wenig sibirische Gefangenschaft, viel deutsche ländliche Einöde

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annajo Avatar

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1945: Nachdem die Familie über Generationen in Galizien gelebt hat, wurden die Ambachers 1939 zunächst von den Nazis ins Wartheland umgesiedelt. Nun, nach Ende des Krieges, werden der 10-jährige Josef Ambacher, sein kleiner Bruder, seine Mutter, Tante und Großeltern nach Sibirien deportiert. Auf dem Weg stirbt bereits sein kleiner Bruder und das wird nicht der einzige Verlust bleiben. Die Ambachers sind nur einige der Zivilverschleppten.

1990: Leila stromert mit ihrem Freund Arnold durch das niedersächsische Örtchen Mühlheide und die umliegende Natur. Fasziniert lauscht sie immer wieder den Geschichten ihres Vaters aus seiner Kindheit und merkt dabei immer wieder deutlich, dass sie anders sind als viele der Mühlheidener. Als 1990 mit dem Ende der Sowjetunion viele Russlanddeutsche, die Neuankömmlinge, nach Mühlheide verschlagen werden, ist Josef Ambacher ihr Anker und Leila muss sich neben dem Erwachsenwerden auch damit auseinandersetzen, was diese Menschen, aber auch ihr Vater, in der Vergangenheit erlebt haben und wie sie alle versuchen, neue Wurzeln zu schlagen.

Auf dieses Buch habe ich mich sehr gefreut und ich hatte große Erwartungen. Generell finde ich die Idee gut, zwei Kindheiten zu unterschiedlichen Zeiten parallel laufen zu lassen, um die völlig verschiedenen Lebensbedingungen darzustellen. Josef, der in der kasachischen Steppe wortwörtlich mit seiner Familie ums Überleben kämpft vs. Leila, die in Mühlheide gut versorgt ist, aber als Kind von Russlanddeutschen eben doch immer wieder ausgegrenzt wird. Letztlich lebt in ihr das Erbe von Josefs Kindheitserfahrungen weiter. Trotzdem war mir das zu wenig. Die Verbindungen waren mir zu schwach verknüpft, dafür wurden für meinen Geschmack unnötig lang viele von Leilas mitunter recht trivialen Erlebnissen ausgewalzt. Die Perspektive wechselte regelmäßig zurück zu Josef in Sibirien, jedoch stand der Umfang der beiden Handlungsstränge in keinem ausgeglichenen Verhältnis. Die Szenen aus Sibirien waren mir zu kurz und immer, wenn es hier spannend wurde, wechselte die Handlung zurück in das gemächliche Mühlheide. Da ich bislang so wenig wusste über die Zivilverschleppung, hätte ich gern deutlich mehr darüber erfahren. Auch hätten die Erfahrungen der Familie Ambacher in Sibirien insgesamt deutlicher beleuchtet werden können. Mitunter bekam ich den Eindruck, für Josef war es weniger traumatisierend und mehr ein großes Abenteuer, obwohl eigentlich überall Mangel herrschte. Auch konnte ich mit zu wenig Hintergrundwissen, das in dem Buch auch nicht vermittelt wurde, die Handlung nicht gut einordnen. Glücklicherweise bin ich während des Lesens dieses Buches auf eine TV-Dokumentation über Zivilverschleppte gestoßen, die mir erst einmal deutlich gemacht hat, dass die Ambachers wohl zu Adenauers Rückgeführten gehört haben müssen, während viele andere erst 1990 aus der Gefangenschaft entlassen wurden in ein Land, dem sie zwar des Passes zufolge angehörten, das aber schon ihre Vorfahren gar nicht mehr kannten, weil seit Jahrhunderten in Polen, Russland oder der Ukraine siedelten. Erst mit diesem Zusatzwissen wurde auch vieles aus dem Mühlheide-Handlungsstrang nachvollziehbarer. Insgesamt war ich von diesem Buch also eher enttäuscht und hätte mir mehr Sibirien und weniger deutsche ländliche Einöde erhofft. Auch wenn hier wichtige und bislang wenig thematisierte historische Ereignisse beleuchtet werden, konnte mich das Buch emotional leider nur wenig erreichen. Nebenstränge wie die zu einem alten SS-Offizier oder lebenslang gehegte Schuldgefühle konnten weder die Spannung noch meine emotionale Beteiligung am Geschehen retten. Ich bleibe trotz einiger Denkanstöße insgesamt eher verwirrt und unzufrieden zurück.