Über Suizid, die Spuren der Vergangenheit und Freundschaft

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la calavera catrina Avatar

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Ich hätte nicht erwartet, dass mich Anja Reich mit ihrer ungetrübten Erzählweise und ihren intensiven Recherchen so in den Bann ziehen könnte, zumal ich das traurige Ende schon kannte. Aber das tat es! So mitreißend, dass ich das Buch fast in einem Rutsch durchgelesen habe. Anja Reich erzählt von ihrer Freundin Simone, die sich vor siebenundzwanzig Jahren, mit nur siebenundzwanzig, das Leben nahm. Zwei Stunden vorher hat sie mit ihr telefoniert, wollte ihrer Freundin ihre renovierte Wohnung zeigen, doch diese hatte keine Zeit. Die quälende Frage, ob sie es hätte verhindern können und das große Warum, bewegen die Autorin zu einer Suche nach Antworten. Sie interviewt u.a. die Eltern, die Cousine, den Bruder, sichtet Fotos und Dokumente und liest Simones Tagebuch. Dabei geht es zurück bis zu den Anfängen, wie die Großeltern lebten. Dabei zeigt Anja Reich auf, wie sich Sprachlosigkeit durch die Generationen zog. Anja Reich dokumentiert Simones Leben, versucht, ihre Gedanken und Gefühle einzufangen. Keine einfach Aufgabe, denn Simone war offenherzig und zurückhaltend zugleich. Ihre „Sorgen, Ängste und Zweifel behielt sie für sich“ - vertraute sich oft nicht mal ihrem Tagebuch an. Sie wünschte sich Freiheit, war aber eingeengt von den familiären Strukturen. Im Verlauf erfährt man auch etwas darüber, wie Anja Reich selbst aufgewachsen ist. Man erhält Einblicke in die DDR und bekommt eine Vorstellung davon, wie schwer es war, sich nach der Wende zurechtzufinden.

"Simone" ist eine sehr persönliche Erzählung, sehr intensiv und zutiefst bewegend. Selbst nach einigen Tagen hat mich die Geschichte nicht losgelassen.
Es gibt viele Stellen, die nachdenklich machen. Auch, wenn es keine konkrete Antwort gibt, zeichnet sich ein vielfältiges Bild von Simone und ihrem Leben, das zumindest einige Fragen beantworten könnte, und ein bisschen das Gefühl vermittelt, Simone tatsächlich gekannt zu haben. Sehr interessant fand ich die medizinischen und sozialen Forschungsergebnisse zum Suizid. Es ist nach wie vor ein Tabuthema, über das nicht gesprochen wird. Anja Reich schafft mit diesem mutigen Buch einen Tabubruch und setzt ein wichtiges Zeichen.