Eine kleine Reise

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
gschven Avatar

Von

Die 18jährige Debbie White wächst unweit von Dublin auf einem Milchviehhof auf. Sie lebt dort mit ihrer Mutter Maeve, die in den Träumen anderer lebt, deren viel jüngerem Liebhaber James und ihrem Onkel Billy, der im Wohnwagen haust, die griechischen Sagen liebt, ab und zu mit ihr die Sterne betrachtet und morgens zur Melkzeit oft noch seinen Rausch ausschläft. Als Debbie am Trinity College in Dublin angenommen wird, sieht sie dies als Chance, ihrem Landei-Dasein und der drückenden Verantwortung für all die „kaputten“ Erwachsenen zu entfliehen. Doch ihr Selbstbild, geprägt von Unsicherheit, Understatement und der Angst, genauso verrückt und haltlos zu werden wie ihre Mutter, führt sie auf selbstzerstörerische Pfade. Dann geschieht ein furchtbares Unglück auf dem Hof, und kurz darauf fast ein zweites, und Debbie muss sich entscheiden, wer und was sie sein möchte… Ganz ohne Paukenschlag und doch eine Wucht! Vermutlich bin ich in einem wunderlichen Alter angekommen; ich staune immer, wenn Menschen, die noch so jung sind wie die irische Schriftstellerin Louise Nealon, schon so lebenskluge Dinge von sich geben und so vielschichtige Charaktere erschaffen. Denn die Romandebütantin kann sich nicht auf „akribische Recherchen“ oder sonstiges Faktenmaterial zurückwerfen, anhand dessen Kritiker gern die Substanz eines Buches messen. Louise Nealon greift tief ins Leben, schöpft aus vollem Herzen und schreibt den Lesenden die Geschichten ihrer ProtagonistInnen direkt unter die Haut. Das tut sie auf unspektakuläre und sehr ehrliche, tabufreie Weise, fast beiläufig, in episodisch erzählten Kapiteln, kurzen, prägnanten Sätzen, treffsicheren Beschreibungen und einem trockenen, schlagfertigen Humor. Dass Louise Nealon ihre Figuren wirklich liebt, ist offensichtlich; sie sind literarisch allerbestens geformt, ihre Entwicklung nachvollziehbar und spannend. Vor allem in den scheinbar mühelos perfekt geratenen Dialogen, die ich sehr genossen habe, gibt sie ihnen Tiefe und echte Persönlichkeit, lässt sie sich nach und nach in eigenen Worten offenbaren. Denn jede/r ist gezeichnet, trägt Masken aus Verletzungen, Geheimnissen oder vermeintlicher Schuld. Allen gemeinsam ist aber auch eine erstaunliche Kraft, ein ansteckender, lebensrettender Humor und die Gewissheit zusammenzugehören, die sie am Ende retten wird. Dieses Gefühl von Wärme zwischen den Zeilen erinnerte mich an Ray Bradburys „Löwenzahnwein“, ein ebenso stilles und doch eindrückliches Buch! Brillant ins Deutsche übertragen hat dies alles Anna-Nina Kroll, die wie die Autorin und die Hauptfigur eine Zeit am Trinity College verbracht hat. Und sie steht da, wo sie als Co-Autorin hingehört, auf dem Cover. Große Leseempfehlung!