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Aus der tiefsten irischen Provinz beginnt Debbie eine neue Facette ihres Lebens, indem sie mit ihrem Studium in Dublin beginnt. Als Pendlerin gehören zunächst die Tage der Uni in der Großstadt und der neuen Freundin Xanthe, bevor sie abends auf die Milchfarm zurückkehrt, sich um ihre Mutter kümmert, die mit ihrer vermeintlich bipolaren Erkrankung zu kämpfen hat, und Zeit mit ihrem im Wohnwagen vor dem Hof lebenden Onkel Billy verbringt. Die beiden Realitäten krachen mit aller Wucht über Debbie zusammen, und sie versucht, sich in diesem Chaos zurechtzufinden, feiert wilde Partys, lernt einen Jungen nach dem anderen sowie den Rausch des Alkohols kennen. Doch immer wieder suchen sie Träume heim, Träume, die nicht ihre eigenen sind, Träume von anderen, die Unheil verkünden. Einer nach dem anderen wird Wirklichkeit, und Debbie droht abzudriften, sich in dem ihr auferlegten Schicksal zu verlieren...

„Es ist eine Erleichterung, ein Trost, wie wenn ich meinen Körper vor dem Einschlafen berühre, um sicherzugehen, dass ich noch da bin, noch ich bin, noch am Leben bin“ (S. 110)

Zunächst erscheint „Snowflake“ wie ein ganz gemütlicher, geradlinig erzählter Coming-of-Age-Roman mit Irland-Romantik. Die Emanzipation der jungen Debbie, die mit dem Studium den Weg in die große Stadt wagt, erscheint wie eine Geschichte weiblicher Selbstbefreiung, von der wir so oder ähnlich schon oftmals lesen durften. Doch weit gefehlt! Louise Nealon entwirft nach und nach das Szenario einer Familie, die sich selbst zu verlieren droht, jede*r für sich und alle gemeinsam. Mutter Maeve, deren Neigung zum Träumedeuten bis in die Wirklichkeit hinüberreicht, und Onkel Billy mit seiner melancholischen Weltsicht prägen – Debbie wie auch uns als Lesende.

Louise Nealon macht dabei so extrem viel richtig: Mit einem nahezu perfekten Pacing gleitet sie mit uns durch die Familiengeschichte, deckt Geheimnisse und Traumata auf, entwirft eine Dorfgemeinschaft voller Individuen, ohne dabei ein Übermaß an Personal zu strapazieren. Ihre Figuren haben Profil, Schärfe und Tiefe: Wenn Debbie sich von ihrer ehemaligen Klavierlehrerin psychotherapeutisch behandeln lässt, dann trägt das so viel authentische Tragikomik in sich, die sich auch in den präzisen, der knappen Wortkargheit der irischen Landbevölkerung angepassten Dialogen widerspiegelt. Wunderbar konterkarierend wirft Nealon mit poetisch reflektierenden Spracheinschüben immer wieder neue Fragen auf und kreiert (Natur-)Bilder rund um Schneeflocken und Löwenzahn-Pflanzen, die den Roman höchst stimmig in seiner Gänze beeinflussen, ohne dabei gefährlich nahe an den Kitsch heranzureichen. Auch die Stadt-Episoden, die Debbie und ihre neu gewonnene Freundin Xanthe ein um das andere Mal einander gegenüberstellen, sie sich vergleichen und ihre Persönlichkeiten, Ähnlichkeiten wie Unterschiede, aneinander reiben lassen, strahlen vor Kreativität im Inneren und vor Lakonie im Sprachlichen. Der beißend ironische Humor Debbies – mal bewusst eingesetzt, mal versehentlich aus Unwissenheit – zieht sich durch den Roman und nimmt uns ganz für sie ein.

In „Snowflake“ treffen wir auf durchweg starke Persönlichkeiten, die ihre nach außen vermeintliche Schwäche mit einem ungeheuren Maß an Kraft, Durchhaltevermögen und Willen kompensieren. Und es geht um Freundschaft, um Zusammenhalt und Unterstützung, um Hilfestellungen für diejenigen, die sie am dringendsten benötigen, um die Macht von Träumen, realen wie fiktiven. Louise Nealon ist es meisterlich gelungen – in wundervoll pointierter Übersetzung von Anna-Nina Kroll –, eine irische Familiengeschichte so zu erzählen, wie sie ist, in all ihrer Purheit, mit all ihren Makeln und Fehlern, die genau dadurch so nachhaltig im Gedächtnis bleibt! Schnörkellos, empathisch und frisch! Eine Erzählerin, die wir uns merken sollten!