Werden braucht Zeit

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jackolino Avatar

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Es handelt sich um das Erstlingswerk der amerikanischen Autorin Shelley Read, die selbst aus Colorado kommt.
Sie beschreibt das Leben in Iola, einem kleinen Städtchen am Gunnison River in den 40er und 50er Jahren. Iola musste später dem Blue Mesa Reservoir weichen, einem großen Staudamm.
Es ist die berührende Geschichte von Victoria Nash und ihrem Leben. Nicht nur, dass sie schon als Kind ihre Mutter und einige nahestehende Verwandte verliert, sie muss sehr früh im Haus und Garten mitarbeiten und ihre große Liebe Wilson Moon, den sie mit 17 Jahren kennenlernt, kommt auf tragische Weise zu Tode. Erst nach seinem Tod stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Für die Geburt zieht sie sich in die Berge zurück und bringt dort, ganz allein, ihren Sohn zur Welt. Niemand soll davon erfahren. Als sie realisiert, dass sie das Kind nicht allein aufziehen kann und in den Bergen kurz vorm Verhungern ist, legt sie das Baby in das Auto einer jungen Familie, einfach in der Hoffnung, dass er dort behütet aufwachsen kann.
Sie selbst geht zu ihrem Vater zurück, um ihn kurz danach ebenfalls zu verlieren, als er an einer Lungenentzündung stirbt.
Viktoria hat niemals viele Freunde gehabt. Sie ist sehr erdverbunden, aber auch pragmatisch genug, um zu erkennen, wann man besser einen anderen Weg einschlägt. Dennoch, sie liebt ihr Land, sie liebt ihren Obstgarten, der alljährlich wunderschöne Pfirsiche hervorbringt, die im ganzen Land berühmt sind. Als die Regierung ihr anbietet, für den Stausee ihr Land zu verkaufen, nimmt sie das Angebot an. Allerdings sorgt sie dafür, dass ihre Bäume mit ihr umziehen. In einem anderen Tal findet sie eine neue Farm. Und tatsächlich gelingt es ihr, dass ihre Bäume auch am neuen Standort Wurzeln schlagen und nach einigen Jahren wieder tragen. Ein Satz, den sie kurz vor Ende des Buches sagt, trifft sowohl auf ihre Bäume als auch auf sie zu: Entwurzelt durch die Umstände, aber dann doch in der Lage, trotzdem weiterzumachen.
Doch immer nagt dieser Verlust ihres Kindes an ihr. Natürlich trauert sie auch um Wilson, ihren Freund, aber von ihm weiß sie, dass er durch die Hand ihres eigenen Bruders den Tod gefunden hat, weil er indianischen Ursprungs war. Ihr Sohn aber lebt, nur sie weiß nicht wo.

Es gibt ein Leben von Viktoria in Iola und nach Iola. Das Leben in Iola war von Verlust geprägt. Ähnlich wie der Ort irgendwann vom Gunnison River zur Anlage des Stausees überschwemmt wurde und verloren ging, so lösten sich auch die sozialen Kontakte Viktorias entweder durch den Tod oder durch Weggang auf.

Erst mit dem Neubeginn in Paonia lässt Viktoria die vielen negativen Erfahrungen aus Iola hinter sich. Hier findet sie sogar in der Frau ihres Maklers eine Freundin.
Vor allem aber sind es die Bäume, die den Umzug akzeptieren. Wie sagt sie so schön: „Das Land würde mein Schicksal entscheiden“.
Und der Entscheidung ihrer Bäume folgend, die neue Heimat anzunehmen, öffnet sich auch Viktoria der neuen Zukunft.

Viktorias Schicksal ist ein Schicksal, das berührt. Dabei driftet die Erzählung niemals ins Rührselige ab. Mir gefällt vor allem der Erzählstil und die kraftvolle und bildhafte Sprache, die von Wibke Kuhn auch hervorragend ins Deutsche übersetzt wurde.