Fluchtgeschichte eines Kindes

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leukam Avatar

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Javier Zamora, ein heute in den USA lebender Lyriker, erzählt in seinem ersten Roman die Migrationsgeschichte eines 9jährigen Jungen. Es ist seine eigene Geschichte.
1999 macht er sich auf eine wochenlange Reise quer durch Mittelamerika, von San Salvador über Guatemala und Mexiko bis in die USA, dorthin, wo seine Eltern leben. Der Vater floh vor dem Bürgerkrieg im Land, da war sein Sohn etwas mehr als ein Jahr alt. Die Mutter folgte ihrem Mann vier Jahre später. Der Junge wächst bei seinen Großeltern und seinen Tanten auf. Es ist eine arme, aber behütete Kindheit und Javier hat sich zu einem klugen, etwas schüchternen Jungen entwickelt.
Ein Versuch, ihren Sohn mit falschen Papieren in einen Flieger zu setzen, schlug fehl und als Illegale hatten die Eltern keine Möglichkeit, ihn auf legale Weise zu sich zu holen. Nun ist endlich genug Geld gespart, um einen Schleuser, einen sog. „Koyoten“, zu bezahlen. Der Großvater begleitet seinen Enkel noch auf der ersten Etappe und übergibt ihn dann Don Dago, der schon die Mutter erfolgreich außer Land geschleust hatte.
Es beginnt eine abenteuerliche und lebensgefährliche Odysee für die siebenköpfige Gruppe um Javier. In Bussen und Lastwagen, auf einem Boot und zu Fuß, Tausende von Kilometer unterwegs. Dazwischen immer in Verstecken und Verschlägen, tagelang wartend auf neue Anweisungen oder Transportmöglichkeiten. Dazu kommt die ständige Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Zweimal scheitert ihr Fluchtversuch, erst beim dritten Mal schaffen sie es über die Grenze.
Das alles beschreibt Javier Zamora detail- und bilderreich auf beinahe 500 Seiten. Auch wenn ich anfangs gehadert habe mit der kleinteiligen Schilderung dieser Flucht, so vermittelt der Autor damit doch sehr authentisch, wie eine solche ganz konkret abläuft und wie es sich anfühlt. Lange Phasen des Wartens und der Langeweile werden unterbrochen durch Phasen der Anspannung und der Gefahr. Das wirkt nicht nur sehr realistisch, sondern macht die Lektüre auch so bedrückend.
Die Hitze, der Durst, die körperliche Anstrengung und Erschöpfung , das alles wird erlebbar gemacht. Bei der lebensgefährlichen Bootsfahrt z.B. spürt der Leser das bedrohliche Schaukeln der Wellen, riecht den permanenten Gestank von Benzin und Kotze, hört das unablässige Lärmen des Motors und fühlt die brennende Sonne und die Kälte der Nacht. Und er hält den Atem an bei jeder Polizeikontrolle, oder wenn Scheinwerfer die Wüste erhellen oder Hubschrauber über den Flüchtenden kreisen. So wird dem Leser ganz eindringlich und nachfühlbar vor Augen geführt, was Menschen auf sich nehmen für ein Leben mit einer Zukunftsperspektive. Denn dort, woher sie kommen, haben sie keine. Deshalb bezahlen sie viel Geld und riskieren ihr Leben.
Javier Zamora hat sich bei seinem Buch für die Kinderperspektive entschieden. Er schreibt konsequent aus der Sicht seines 9jährigen Ichs, nicht aus der Rückschau und mit dem Wissen des Erwachsenen. So wird einem immer wieder bewusst, dass es ein Kind ist, dem dies alles widerfährt.
Die kindliche Perspektive mag den Leser manchmal nerven, wenn Javier alles aufführt, was er sieht und was er fühlt, Wichtiges und Unwichtiges. Oder sie kann den Leser unbefriedigt zurücklassen, weil wichtige Informationen fehlen ( Warum musste der Vater das Land verlassen?) oder weil viele der begleitenden Figuren blass bleiben. Aber ein Kind beobachtet alles um sich herum, durchschaut aber nur Weniges.
Eine sprachliche Besonderheit sind die zahlreichen spanischen Brocken, mit denen der Text durchsetzt ist. Im Anhang findet sich dazu ein Glossar, das leider nicht alphabetisch geordnet ist und vieles garnicht aufführt. Das Nachschlagen hemmte auf Dauer so meinen Lesefluss, dass ich mich dagegen entschied. Damit fühlte ich mich in einer ähnlichen Situation wie viele Migranten, die auch nicht jedes Wort verstehen.
Javier war das, was bei uns im Amtsdeutsch als „ unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ gilt. Und man denkt unwillkürlich, dass Kinder solche Erfahrungen nicht machen sollten. Oft fühlt er sich einsam, sehnt sich nach Zuwendung. „ … solo, solito, solito de verdad“ ( allein, ganz allein, mutterseelenallein).
Zu seinem Glück nimmt sich eine Frau und ein junger Mann seiner an. Die bilden zusammen mit der etwas älteren Tochter der Frau eine Art Ersatzfamilie für ihn. Sie kümmern sich, teilen das Essen und den Schlafplatz mit ihm, tragen ihn durch die Wüste, als er nicht mehr kann.
Und am Ende, als er in den USA angekommen ist, freut sich Javier zwar auf seine Eltern, doch der Abschied von seiner Zweitfamilie fällt ihm schwer. Er wird sie nicht nur vermissen, nein, sie fehlen ihm auch als Zeugen für das Erlebte, denn niemand sonst in seiner neuen Umgebung wird verstehen oder nachempfinden können, was diese Zeit ihm bedeutet.
Der Autor hat sie nie mehr getroffen, aber er widmet ihnen sein Buch : „ Für Patricia, Carla, Chino & alle Immigranten, die ich auf dem Weg in die USA kennenlernte und nie wiedersah. Ohne euch wäre ich nicht hier“

Javier Zamora hat seine traumatische Flucht jahrelang in sich verschlossen, bis er sie mit therapeutischer Hilfe verarbeitet hat. Das Ergebnis liegt uns nun als Buch vor.
Nach der Lektüre betrachtet man das sog. „ Flüchtlingsproblem“ nochmals mit anderen Augen. Es wäre zu wünschen, dass möglichst viele dieses „ Memoir“ lesen . Es ist keine einfache Lektüre, aber eine, die lange nachhallt.
Interessiert wäre ich an einer Fortsetzung, denn das hier ist eine reine Fluchtgeschichte, die das Danach ausspart.
Unverständlich bleibt, warum der Verlag dem Buch keine Karte mit dem Fluchtweg vorangestellt hat.