Ambitioniertes, abwechslungsreich erzähltes Krimi-Drama um eine Serie brutaler Vergewaltigungen in 1994

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alekto Avatar

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Die bosnische Muslimin Nadija Alihodzic ist als Kriegsflüchtling und Asylbewerberin erst seit einem Jahr in Schweden gewesen, bevor sie vor einem Flüchtlingswohnheim ermordet worden ist. Währenddessen ist ihr Ehemann Elvedin unterwegs gewesen, weil er nachts in einem nahe gelegenen Industriegebäude putzt. Indem sein betrunkener Bruder Kristian vor dem Polizeirevier damit prahlt, die Tat begangen zu haben, wird Tomas Wolf, Kriminalkommissar bei der Mordkommission in Stockholm, in den Fall verwickelt, da er seinem Bruder zwar diverse kriminelle Machenschaften zutraut, dieses Verbrechen aber nicht zu ihm zu passen scheint. So nimmt Tomas die Ermittlungen auf und stellt den Zusammenhang in einer abgründigen Serie von Vergewaltigungen her.

“Sommersonnenwende” wird von Engman und Selaker neben der Perspektive des Polizisten Tomas Wolf auch aus Sicht der Journalistin Vera Berg sowie des bekannten Schauspielers Micael Bratt erzählt.
Tomas Wolf ist ein von seiner Arbeit überforderter Kommissar, nachdem er bereits eine Leiche zu viel gesehen hat und nun von den Geistern der Verstorbenen verfolgt wird, die er an den Orten, an denen sie ihren Tod gefunden haben, nicht aus dem Kopf bekommen kann. Seine schwierige Situation wird durch seinen mit Abwesenheit glänzenden Partner und ehemaligen Mentor Lars Johansson, der von allen Zingo genannt wird, verschärft, indem er Tomas nicht nur keine Unterstützung ist, sondern seinerseits dessen Hilfe benötigt, wenn Tomas für sein fortwährendes Fehlen dem Chef gegenüber Ausreden parat haben muss. Zudem verfolgen Tomas die grausamen Taten, deren Zeuge er im in Bosnien-Herzegowina tobenden Krieg ein Jahr zuvor geworden ist. Seine Familie, die aus seiner Frau Klara und seinen zwei kleinen Kindern Alexander und Ebba besteht, wird von seiner Liebe zur schönen Azra belastet, die er als einzige Überlebende eines Massakers in einem bosnischen Dorf entdeckt hat.
Auch Vera Berg hat mit ihrer traumatischen Vergangenheit zu kämpfen, da ihr kleiner Bruder Vincent früh gestorben ist und deren Eltern, die ihr die Schuld daran gegeben haben, ihr den Rücken gekehrt und sie nicht mehr als ihre Tochter angesehen haben. So kann sie den sechsjährigen Sigge, der der Sohn ihres Ex-Freundes Johnny ist, weder dem Jugendamt übergeben noch seinem Vater überlassen, der tagelang verschwinden kann, wenn er auf Droge ist, und sich mit Betrügereien, Diebstählen und Raubüberfällen über Wasser hält. Kurzerhand nimmt sie Sigge mit nach Stockholm, als sie dort ihre neue Stelle bei der Kvällsposten antritt, um das anspruchsvolle Ressort der überregionalen Berichterstattung zu vertreten. Im Zuge ihrer Arbeit kommt Vera ebenfalls in Kontakt mit der brutalen Mordserie, deren Opfer Nadija Alihodzic geworden ist.
In die Vita des Polizisten Tomas Wolf und der jungen Vera Berg ist von Engman und Selaker eine Vielzahl von Problemen integriert worden, die fast schon ein wenig des Guten zu viel ist. Dabei ist den Autoren jedoch ein komplexes Porträt nach wie vor relevanter Themen gelungen, die die Charakterisierung ihrer beiden Protagonisten prägen, weil deren ambivalente Auseinandersetzung damit beschrieben wird. Im Gegensatz dazu ist der berühmte Micael Bratt recht eindimensional geraten. In jeder Szene, in der er auftritt, neigt er zu Größenwahnsinn und schafft es sein zuvor bereits an den Tag gelegtes unhöfliches Verhalten noch zu toppen. Zudem ist sein Handlungsspielraum dadurch, dass er quasi permanent betrunken ist, ziemlich eingeschränkt.

Abgesehen von einem vorangestellten Prolog und einem nachgelagerten Epilog ist “Sommersonnenwende” zeitlich vom 6. Juni bis 18. Juli 1994 angesiedelt und wird von Anfang an abwechslungsreich aus mehreren Perspektiven geschildert. Denn Engman und Selaker nutzen den traumatisierten Ermittler und die unter ihrer Vergangenheit leidende Journalistin nicht dafür ein in typischer Weise ruhig erzähltes skandinavisches Krimi-Drama zu entspinnen, indem das Buch eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen abdeckt, die meisten davon aber nur anschneiden kann. Auch werden die Hauptfiguren neben der im Mittelpunkt stehenden Vergewaltigungsserie mit weiteren Verbrechen wie einem schockierenden Massaker, das das beschauliche Falun erschüttert hat, konfrontiert. Durch die verschiedenen, begonnenen Handlungsstränge und die Vielzahl der angerissenen Themen, obgleich die Auseinandersetzung mit diesen meist nicht in der Tiefe erfolgt, die deren Bedeutung gerecht werden würde, erreicht "Sommersonnenwende" eine gewisse Komplexität. Dabei hat mich die gekonnte Integration tatsächlicher historischer Ereignisse aus dem Jahr 1994 wie des Amoklaufs in Falun oder der Erfolge, die die schwedische Nationalmannschaft bei der in den USA ausgetragenen Fußball-WM erzielt hat, in die von den Autoren ersonnene Kriminalgeschichte überzeugt, indem die Übergänge zwischen Fiktion und Realität fließend ausgefallen sind.
Dagegen ist die Entwicklung der erst so stark eingeführten Protagonisten Wolf und Berg weniger gelungen, da die nicht gänzlich schlüssig ist. Inkonsistenzen zeigen sich etwa bei den Gedächtnislücken von Wolf, die durch dessen traumatische Erlebnisse während seines Einsatzes im Bosnien-Krieg bedingt sind. Nachdem Engman und Selaker eingangs noch eindringlich PTBS-Symptome und deren Auslöser wiedergegeben haben, sind diese Aussetzer von Wolf im späteren Verlauf des Romans dann plötzlich über weite Strecken verschwunden. Berg trifft kaum nachvollziehbare Entscheidungen, wenn sie wiederholt allein bzw. höchstens mit Verstärkung des kleinen Sigge Tatverdächtige mit ihrer Theorie von Angesicht zu Angesicht konfrontieren muss, damit sie deren Reaktion ablesen kann. So bringt sie sich nur unnötigerweise in Gefahr, was zwar die Spannung in diesen Szenen hochtreibt, aber spätestens als sich bei Berg durch diese Aktionen kein Lerneffekt einstellt, zulasten der Glaubwürdigkeit ihrer Figur geht. Der Charakterisierung von Schauspieler Bratt hätte gut getan, wenn diese nicht derart einseitig geraten wäre, sondern die Autoren andere Seiten von ihm - wie etwa seine in Armut verbrachte Kindheit - näher beleuchtet hätten.
Nach einem starken Einstieg haben sich bei mir in den Mittelteil von "Sommersonnenwende" Längen eingeschlichen, weil die Verfolgung der falschen Fährten, die ich meist schnell als solche identifizieren konnte, aufgrund der Behinderung durch den Mittsommer-Feiertag, die Urlaubszeit sowie die Fußball-WM viel Zeit in Anspruch genommen hat. Da ich den zum Schluss enthüllten Täter recht früh vermutet habe, hätte ich diesen Krimi als gelungener empfunden, wenn Engman und Selaker statt der exzessiven Beschreibung der Finten interessanten Nebenfiguren mehr Raum gegeben hätten, um deren Handlungen für mich plausibler werden zu lassen. Dazu zählen Veras Ex-Freund Jonny und sein ambivalentes Verhältnis zu seinem Sohn Sigge, Wolfs Partner Zingo und dessen ausufernde Abwesenheitszeiten im Job sowie Wolfs jüngerer Bruder Peter und die Auswirkung der radikalen Aktionen von Thomas auf dessen weitere Entwicklung.