Ein Buch über Erinnerungen, Wahrheiten und die Kunst loszulassen

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Carsten Henn hat nach „Der Buchspazierer“ mit „Sonnenaufgang Nr. 5“ ein Buch geschrieben, das mitten ins Herz trifft. Schon nach wenigen Seiten war ich völlig in der Geschichte von Jonas und Stella versunken. Es geht dabei um zwei Menschen, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten und doch mehr gemeinsam haben, als sie ahnen.
Jonas, gerade einmal 19 und auf der Suche nach seinem Platz im Leben, möchte als Ghostwriter anderen helfen, ihre Geschichten zu erzählen. Seine erste Kundin ist Stella Dor, eine alternde Schauspielerin, die in einem Haus voller auf Zetteln notierter Erinnerungen und Geheimnisse lebt. Sie bittet ihn, ihre Autobiografie zu schreiben, eine Geschichte, die perfekt wirken soll. Doch je tiefer Jonas in Stellas Leben eintaucht, desto deutlicher wird, dass vieles, was sie erzählt, geschönt ist. Ihr Bezug zur Realität der Vergangenheit ist schräg und verzerrt. Sie sagt „…und es wäre ja noch schöner, wenn die Realität uns vorgebe, an was wir uns später erinnern sollen! Das entscheiden wir immer noch selbst.“ Am Ende geht es gar nicht darum, die Wahrheit zu verschweigen, sondern sie endlich auszuhalten.
Ich mochte besonders, wie feinfühlig Carsten Henn mit seinen Figuren umgeht. Stella ist keine einfache Person, sie ist stolz, verletzlich, manchmal herrisch, etwas schrullig aber immer faszinierend. Jonas dagegen ist still, aufmerksam und wächst im Lauf der Geschichte über sich hinaus. Auch die Nebenfiguren bleiben nicht blass. Paul und sein Hund, die alte Dame an der Bushaltestelle oder der Maler, der immer denselben Sonnenaufgang malt… sie alle tragen kleine Geschichten in sich, die das Buch zu einem echten Geflecht aus Lebenserfahrungen machen.
Der Schreibstil ist ruhig, poetisch und durchzogen von dieser besonderen Wärme, die ich bei Henn so schätze. Es gibt viele Sätze, die man zweimal liest, weil sie so schön und wahr sind. Die Atmosphäre am Meer, das Rascheln der Zettel mit niedergeschriebenen Erinnerungen, die Stille in Stellas Haus, all das hat sich beim Lesen fast real angefühlt. Meine inneren Bilder beim Lesen gaben die Atmosphäre der Verfilmung von „Der Buchspazierer“ her, etwas märchenhaft, mit gezeichneten Charakterstärken und liebevoll inszeniert.
„Sonnenaufgang Nr. 5“ ist ein kluges Buch über das Erinnern, über die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, und über die Frage, was bleibt, wenn wir beginnen, ehrlich zu werden, zu anderen und zu uns selbst.
Ich gebe eine klare Leseempfehlung für alle, die Geschichten lieben, die berühren, ohne kitschig zu sein und die zeigen, dass jedes Leben seine eigene Wahrheit verdient.