Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Tier?

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wortknaeuel Avatar

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Sam ist immer dem Anlass entsprechend gekleidet, liebt Pizza und trinkt gern mal einen Wein. Sam ist ein Schimpanse, der von klein auf unter Menschen aufwächst und gelernt hat, per Zeichensprache mit ihnen zu kommunizieren. So ist er sich auch nicht bewusst darüber, dass er selbst einer anderen Spezies angehört als seine Mitbewohner: Guy, Professor für vergleichende Psychologie, und Aimee, dessen introvertierte Studentin. Aber: haben Tiere überhaupt ein Bewusstsein?

Dieser Frage geht der Leser auf den Grund, während die Handlung ihren Lauf nimmt. „Verliebe dich nie in ein Forschungsobjekt“ heißt ein guter Rat unter Verhaltensforschern. Doch wie kann man Sam nicht lieben? Nur allzu menschlich wirkt er mit seinen zwei Jahren, wie ein hyperaktives Kind: verspielt, impulsiv und schelmisch – Schimpansen-Humor. Doch als die Sprachforschung mit Tieren an Popularität verliert, wird das Forschungsprojekt eingestampft und Sams Besitzer, Professor Moncrief, fordert seinen Schimpansen zurück, könnte man ihn doch noch für die Zucht oder die medizinische Forschung einsetzen.

An der tragischen Geschichte von Sam wird deutlich, wie abhängig die Wissenschaft von populären Strömungen und der Gunst der Medien ist. T.C. Boyle thematisiert die leider traurige Realität der Sprachforschung an Affen in den 70er und frühen 80er Jahren, die zunächst von TV und Magazinen gehyped Begeisterung auslöste, beim Aufkommen kritischer Stimmen jedoch zum Show-Stopper und damit unrentabel wurde. Für viele Menschen- und Tieraffen bedeutete das einen harten Bruch in ihrem noch jungen Leben und ein Ende in sterilen Käfigen ohne geistige Stimulation.

Die Handlung wird hauptsächlich aus Sicht von Aimee erzählt, die Sam als Einzige wirklich respektiert und eine Seele anerkennt. Da sie Sam nicht als reines Forschungsobjekt sieht, ist sie auch offen, von ihm zu lernen, und zwar das Leben im Augenblick. Daneben wirken das Dominanzgehabe Moncriefs und das unterwürfige Buckeln von Guy geradezu absurd primitiv.

In kurzen Kapiteln tauchen wir auch in die Gedankenwelt von Sam ein. Während sich Sams Kommunikationsfähigkeit zu Beginn eher auf kindliche Forderungen wie „Umarme mich“ beschränkt und damit die Forschungskritiker zu bestätigen scheint, entwickelt er sich mit zunehmendem Alter und Erfahrungsschatz weiter. Er erlebt Anflüge von tiefgründigen Gedanken, doch die auf praktische Begriffe beschränkte Zeichensprache reicht nicht aus, um sich damit verständlich zu machen. Und so bleibt dem begriffsstutzigen Menschen die Antwort auf das Rätsel verwehrt, ob Tiere ein Bewusstsein haben.

T.C. Boyles Roman „Sprich mit mir“ ist von Anfang bis Ende spannend zu lesen und gibt ganz unaufdringlich Anstoß zum Nachdenken. Die Hardcover-Ausgabe ist zudem schön gestaltet.