Intensive Spurensuche des eigenen Vater und der Auswirkungen auf das eigene Sein

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luisabella Avatar

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»In den Spuren und Abwegen kann ich nur vage betrachten, was von der Vernichtung blieb, und das ist eben einerseits ein ganzes Menschenleben und andererseits nicht viel.« Kurt über seinen Vater (169)

Mit 17 Jahren war Kurt’s Vater als Halbjude im Lager Lenne (Niedersachsen) interniert und hat das Zwangsarbeitslager der Nazis überlebt, während andere Familienangehörige durch die Nazis ermordet werden. Mit 58 Jahren wird der Journalist und Politiker Harry Tallert (1927-1997) ein letztes Mal Vater — von Kurt als Jüngstem von vier Kindern — und verstirbt 12 Jahre später. Kurt Tallert hatte also nicht viele gemeinsame Lebensjahre mit seinem Vater und nähert sich diesem mit seinem autobiografische Werk mittels einer literarischen Analyse. Welche Auswirkungen kann das erlittene Leid durch die Nazis auf nachfolgende Generationen haben? Inwiefern prägt dies die Folgegenerationen? Genau diese Fragen greift Kurt Tallert einfühlsam, eindringlich und äußert akribisch in seiner literarischen und gegenwärtigen Spurensuche auf.

»Mein immer gut gekleideter Vater sitzt in einem Büro an einem unscheinbaren Schreibtisch, während sich zu seiner Linken ein Zirkuskrokodil an der Tischkante abstützt. […] Auf dem Foto blickt er dennoch gelassen zu dem mittels Kühlung ruhiggestellten Raubtier, als wäre dieses archaische Reptil ein Stück gezähmter Vergangenheit. Diese Bedeutung konnte das Bild wohl nur für mich haben.« 55f 🐊

In seinem Sachbuch »SPUR UND ABWEG« setzt sich der Autor Kurt Tallert intensiv mit seinem Vater und damit schlussendlich auch sich selbst auseinander. Die Leerstellen, die sein Vater hinterlassen hat, untersucht Kurt in diesem Buch intensiv, indem er Unterlagen, Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe und Karten des Vaters studiert, analysiert und in historische Kontexte setzt. Zudem berichtet er von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und setzt diese in den Kontext des Lebens seines Vaters. Mit 6 Jahren betritt Kurt zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald:

»Heute sehe ich das Bild des sechsjährigen Jungen, der auf dem ehemaligen Appellplatz steht, sich umblickt, in sich kehrt und nicht wieder ganz aus sich herauskommt. Oder zumindest nicht als derselbe. Ich glaube, an diesem Tag wurde mir die Skepsis als eine Art Urvertrauen in die Enttäuschung eingepflanzt. Ich lernte, dass es möglich war, jederzeit möglich, dass die Umwelt sich gegen einen kehrte, dass sie mit einem brechen konnte, dass sie einen brechen würde, dass es Situationen gab, in denen ein Mensch aus allen Situationen gerissen werden konnte, und dass er nichts dazu tun musste und nichts dagegen tun konnte, außer - und das ist recht erbärmlich - Glück zu haben.« 37

Dieses sehr persönliche, intensive Zeugnis und Auseinandersetzung mit dem Leben des eigenen Vaters sowie den eigenen Anteilen an der Erinnerung ist sehr interessant und umfangreich. Stellenweise empfand ich die Lektüre so, dass der der Autor abschweift und der roten Faden etwas verloren geht. Nichtsdesto trotz ist es ein sehr wichtiges Zeitzeugnis, das vergegenwärtigt, wie sehr die deutsche Geschichte Generationen nach wie vor prägt; wie wichtig es ist, uns immer wieder zu erinnern: NIE WIEDER IST JETZT.

Ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen!