Quälend

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martinabade Avatar

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Ächz. Da ist der wieder. Der Mensch, der sich in irgendeiner Weise in der Kunst betätigt, fühlt sich plötzlich berufen, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten. Und er taucht tief in Zeitzeugenberichte, Kartons mit Briefen und Postkarten, sucht und findet Zeugnisse und Beurteilungen, führt Interviews. Und es ist ja auch wirklich schön, eine solche Familiengeschichte dem Vati oder Opi zum letzten Runden zu überreichen. Mit all‘ den erfüllenden und erheiternden Höhepunkten der Sippenentwicklung – und natürlich auch den obligaten deutschen Leerstellen in bestimmten Jahrzehnten. Andererseits gibt es die, die sich gerade auf diese Jahrzehnte der Leere und des Schams konzentrieren und wie die Trüffelschweine in der Schuld und dem Versagen zweier Weltkriege, und wahlweise auch noch einer Diktatur, buddeln. Und dann aus diesen Funden eine Familiengeschichte in Schutt und Asche kreieren. Auch gut, wenn diese Lektüre im Familienkreis bleibt, mag noch alles gut bleiben.

Gefährlich wird’s, wenn das Pamphlet oder dessen Autor oder Autorin den Weg in die Öffentlichkeit sucht – und findet. Und das unter tätiger Mithilfe eines Verlages wie Dumont. Hallelujah! Ich alter Knochen verband seit je her eine gewissen Qualität mit diesem Hause, nun ja.

Kurt Tallert, geboren 1986, beschreibt in „Spur und Abweg“ das Leben seines Vaters. Ein Leben, das durch die Flucht vor den Nazis und den Kampf für die Demokratie in der jungen Republik gekennzeichnet ist. Vater Harry ist Halbjude und ein „alter Vater“. Als Kurt geboren wird, ist Harry 58 Jahre. Also muss auch der Witz vom „Na, Kleiner, gehst Du mit Deinem Opa spazieren?“ herhalten. Kurt ist zwölf Jahr, als sein Vater stirbt, und der Sohn weiß quasi nichts über diesen Mann. Der Topos der Erinnerung gewinnt sehr früh eine große Bedeutung in Kurts Denken. Nicht umsonst finden wir auf der Vorsatzseite den Satz; „Meiner Familie, die ich immer noch kennenlerne“.

Unter dem Künstlernamen »Retrogott« prägt Taller gegenwärtig als Rapper, DJ und Produzent erfolgreich seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. Dazu der Verlagstext:“ „Spur und Abweg“ ist sein schriftstellerisches Debüt.“ Nein, ist er nicht. Siehe oben: das hat mit Literatur nichts zu tun. Der Stil ist hölzern, die Struktur des Textes mehr als erratisch.

Stilistisch stellt sich wieder einmal die Frage: Roman oder historischer Essay? Da ist hat jeder IKEA Flickenteppich mehr rote Fäden. Ich gebe ehrlich zu. Nach Seite 70 hat es mich gerissen, und ich gab‘ die Lektüre auf. Aber ich darf Ihnen vorstellen: das erste gut 200 Seiten starke Werk, dass sich anfühlt wie ein 1200 Seiten Schinken. So – if not with a special interest, keep away.