Sind wir nicht alle Kritiker?

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Mit „Standing Ovations“ ist Charlotte Runcie ein kluger, atmosphärisch dichter Roman gelungen, der tief in die Welt der Kulturszene eintaucht – und dabei sowohl deren Glanz als auch ihre Abgründe sichtbar macht.

Die Geschichte beginnt mit einer provokanten Ausgangslage: Theaterkritiker Alex vergibt eine vernichtende Ein-Stern-Kritik an eine junge Performance-Künstlerin – und verbringt noch in derselben Nacht Zeit mit ihr, ohne seine Identität preiszugeben. Als die Künstlerin am nächsten Morgen erfährt, wer er ist, entfesselt sie einen Sturm der Empörung, der bald zum öffentlichen Tribunal wird. Cancel Culture, Macht in der Kunstwelt, Geschlechterrollen – das alles spielt hier mit, ohne belehrend oder einseitig zu wirken.

Erzählt wird aus der Perspektive von Sophie, Alex’ Kollegin, die sich mit ihm eine Unterkunft in Edinburgh teilt. Ihre Rolle ist besonders interessant: Sie ist weder klar parteiisch noch moralisch überlegen – vielmehr schwankt sie zwischen Loyalität, Selbstreflexion und eigenen inneren Konflikten. Diese Ambivalenz macht sie zur glaubwürdigen Beobachterin einer Geschichte, die viel Raum für eigene Urteile lässt.

Die Kulisse – das Kunstfestival in Edinburgh – ist dabei fast ein eigener Charakter. Die beschriebene Atmosphäre aus Performances, Ausstellungen, Empfängen und Gesprächen wird so lebendig eingefangen, dass man sich selbst mitten im Festivalgetümmel wähnt. Wer literarische Settings liebt, die mit Kultur, Kunst und kritischem Diskurs gefüllt sind, wird hier definitiv auf seine Kosten kommen.

Allerdings sollte man nicht mit einem rasanten Plot oder actionreichen Wendungen rechnen. „Standing Ovations“ ist vor allem themengetrieben: Es geht um Diskurs, Wahrnehmung, Verantwortung – und um die Frage, wer eigentlich das Recht hat, Kunst zu bewerten.