Die mittelalte Frau, der alte Mann und das sehr alte Meer
Benjamin Myers hat ein besonderes Gefühl für Sprache, was man (auch dank der meisterhaften Übertragung des Übersetzers) direkt auf den ersten Seiten der Leseprobe merkt: "Der Raum fühlt sich luftlos an, ein Vakuum. Alle Uhren schmelzen." Die so skizzierte Atmosphäre ist sehr dicht, saugt einen förmlich auf und die Frage, die sich der Protagonist am Ende des Prologs stellt, scheint programmatisch für den Roman zu sein: "Bin ich schon tot - oder träume ich nur?" Entsprechend wird im Folgenden das traumgleiche England, wohin der Protagonist Bucky zu einem Musikfestival eingeladen wurde, mit Buckys Lebenswelt voller Schmerzen kontrastiert. Seine genaue Beobachtungsgabe zeichnet sein Umfeld dabei in krassen Farben, kann aber gleichzeitig eine Liebe zu den Menschen nicht verkennen lassen und so wächst Bucky einem automatisch ans Herz. Unweigerlich will man folglich wissen, welche Abenteuer auf ihn warten, nachdem er die Schwelle zwischen Alltag und Traumwelt übertritt und auch, was es mit seiner englischen Reisebegleiterin, Dinah, auf sich hat. Das Œuvre von Benjamin Myers lässt dabei nur Gutes erwarten, denn wie kaum einem anderen Autor seiner Generation gelingt es ihm, unglaublich lebensnahe, liebenswerte Charaktere zu zeichnen und seine Leserinnen und Leser in die irgendwie nahe und gleichzeitig doch ferne Welt seiner Romane, in den magisch in Worte gewebten Norden Englands, zu entführen. Nach einer Kurzgeschichtensammlung und "Cuddy" scheint es fast so, als ob "Strandgut" - zumindest von der Leseprobe her - wieder an die Brillianz von "Offene See", meinem absoluten Lieblingsbuch, heranreichen kann, weswegen ich mich sehr freuen würde, "Strandgut" vorablesen zu dürfen!