Ein konstruierter Roman ohne Tiefe und Poesie

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Mit „Offene See“ gelang Benjamin Myers ein literarischer Überraschungserfolg, der vor allem im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Die berührende Geschichte um den jungen Robert und die exzentrische Dulcie war nicht nur feinfühlig erzählt, sondern zeichnete sich auch durch eine besondere Sprache und eine leise, aber eindringliche Atmosphäre aus – und umso gespannter war man nun auf seinen neuen Roman „Strandgut“, der vom Verlag nicht zufällig mit dem Erfolgsbuch in Verbindung gebracht wird. Doch handelt es sich in Wahrheit über eine vollkommen andere Art von Geschichte – und leider auch ein gänzlich anderes Leseerlebnis.
Im Zentrum von „Strandgut“ steht nicht mehr ein junger Mann am Beginn seines Lebenswegs, sondern Bucky, ein in die Jahre gekommener Soulsänger, der einst einen einzigen Hit hatte und seither in Vergessenheit geraten ist. Nach dem Tod seiner Frau lebt er ein freudloses, eintöniges Leben in den USA – bis ihn eines Tages überraschend die Einladung erreicht, in einer kleinen englischen Gemeinde aufzutreten. Die Reise über den Atlantik nimmt er spontan auf – ein ungewohnt impulsiver Schritt für jemanden, dessen Leben zuvor von Stillstand geprägt war.
Was zunächst wie der Auftakt zu einer bewegenden Selbsterkenntnis-Reise klingt, entwickelt sich leider bald zu einer eher schleppenden und wenig fesselnden Erzählung. Myers versucht durchaus, Buckys Vergangenheit zu beleuchten und seinen Charakter durch Erinnerungen und Reflexionen zu vertiefen. Doch anders als in „Offene See“ gelingt es ihm nicht, eine Figur zu schaffen, mit der man sich gerne auseinandersetzt oder die einen länger beschäftigt. Bucky wirkt oft grobschlächtig, unnahbar, mitunter sogar unsympathisch – was ihn als Hauptfigur schwer erträglich macht. Zwar bleibt er nicht blass, doch emotionale Nähe oder gar Empathie mag beim Lesen kaum entstehen.
Ähnlich problematisch sind auch die Nebenfiguren, insbesondere Dinah, die zweite zentrale Figur des Romans. Zwischen ihr und Bucky soll sich eine besondere Verbindung entwickeln – ähnlich wie zwischen Robert und Dulcie im Vorgängerroman. Doch wo dort ein literarischer Zauber entstand, bleibt die Beziehung in „Strandgut“ seltsam leblos. Zwar tauschen sich beide über ihre inneren Nöte aus, doch der emotionale Gehalt wirkt konstruiert, die Dialoge oftmals flach, und das finale „Zusammenraufen“ beider Figuren ist enttäuschend banal. Auch Dinahs Familie – ihr Sohn und ihr Ehemann – bleiben eindimensionale, teils karikaturhafte Figuren. Myers greift zu plumpen Mitteln wie Körpergerüchen, Fäkalhumor und aggressivem Verhalten, um die Charaktere zu skizzieren – statt sie zu entwickeln oder ihnen Tiefe zu verleihen.
Hinzu kommt, dass die gesamte Thematik des Romans fragwürdig erscheint: Ein abgehalfterter Soulsänger auf einer letzten Tournee – das mag für eine kurzweilige Erzählung reichen, doch nicht für einen Roman, der mehr sein will als seichte Unterhaltung. Die Geschichte kratzt bestenfalls an der Oberfläche, literarische Tiefe sucht man vergebens. Die melancholischen Töne, die „Offene See“ so auszeichneten, fehlen hier fast gänzlich, ebenso die leise Poesie, mit der Myers einst seine Leser gewann. Die Leichtigkeit, die seinen Erfolgsroman prägte, hat sich nahezu ins Gegenteil verwandelt. Alles an „Strandgut“ wirkt bemüht und angestrengt, der Autor hat sichtlich Mühe, die Geschichte und seine Figuren zu entwickeln. Dabei kommt ein konstruiertes Machwerk zustande, dessen Bauplan man als Leser rasch durchschaut.
Letztlich bleibt der Eindruck, dass Myers an seinem eigenen Anspruch scheitert, einen Gegenwartsroman zu schreiben, der zugleich unterhält und literarischen Anspruch besitzt. Ohne das historische Setting des Zweiten Weltkriegs, das „Offene See“ so glaubwürdig und atmosphärisch machte, treten die stilistischen Schwächen und die erzählerische Eintönigkeit in „Strandgut“ nur umso deutlicher hervor.
„Strandgut“ ist ein enttäuschender Roman, der kaum mit dem Vorgänger mithalten kann. Die Figuren bleiben blass oder unsympathisch, die Handlung flach, die Emotionen konstruiert. Selbst Fans von „Offene See“ sollten sich genau überlegen, ob sie sich auf diese Reise begeben wollen.