Eindrucksvoll und berührend
„Ich habe das Gefühl, als kämpfte eine Hälfte von mir gegen die andere in dem Wunsch zu vergessen, statt zu erinnern (…)“ - Yehudith Segal (geb. Gertrude Batscha)
Journalist Julian Borger, Leiter des Außenpolitikressorts der Zeitung „The Guardian“ widmet sich in „Suche liebevollen Menschen“ den Schicksalen von österreichischen jüdischen Kindern, die den Holocaust überlebten. Anlass ist die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, konkreter mit der Geschichte seines Vaters, Robert Borger. Im Rahmen einer Recherche stößt Borger auf eine Annonce im „Manchester Guardian“ und erschrickt, als er den Namen seines Vaters, Robert Borger, in dieser liest. Zeitlich befinden wir uns kurz nach der Annexion Österreichs durch das Hitler-Regime. Bereits 1933 führte Engelbert Dollfuß gemeinsam mit Justizminister Kurt Schuschnigg einen Staatstreich durch, der die Lahmlegung des Parlaments sowie die Abschaffung des Rechtsstaates zur Konsequenz hatte. Nach dem Tod Dollfußes gelang Schuschnigg als neuer Kanzler an die Macht und wurde neuer Führer der „vaterländischen Front“. Die Kanzlerdiktatur geriet zunehmend ins Wanken, da Mussolini einen Ausgleich Österreichs mit dem deutschen Reich forderte. 1936 schloss Österreich ein Abkommen mit Hitler, in dem dieser Österreich volle Souveränität garantierte, im Gegenzug stand es den Nationalsozialisten zu, führende Positionen in österreichischen Institutionen zu besetzen. Immer mehr Österreicher bekannten sich offen zum Nationalsozialismus. Zwei Jahre später kam es zur Unterzeichnung des sogenannten Berchtesgadener Abkommens, welches Schuschnigg aufgrund der Sorge vor einem Militärschlag Hitlers unterzeichnete. Seine geplante Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit sollte nie stattfinden, da Hitler Schuschnigg mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht drohte, was schließlich zu Schuschniggs Rücktritt führte. Entgegen allen Versprechungen folgte am 12. März 1938 der Einmarsch der Wehrmacht in Österreich.
Um den Gräueltaten des Regimes zu entgehen, versuchten viele Familien, ihre Kinder ins Ausland zu vermitteln. Die Lebenswege dieser Kinder hat Julian Borger aufwendig recherchiert und mithilfe von Archivmaterial sowie Befragungen von Nachfahren und Vertrauten der Kinder rekonstruiert. Robert Borger wurde aufgrund des „Anschlusses“ Österreichs an das „Deutsche Reich“ beispielsweise an eine Pflegefamilie in Großbritannien vermittelt. Das Gesuch seiner Eltern lautete: „I seek a kind person who will educate my intelligent boy, aged 11, Viennesse of good family.” Aus der Recherche zu diesem Einzelschicksal wird eine Suche nach den Kindern aus den weiteren Inseraten des Manchester Guardian. Fragen rund um die Themen Erinnern und vergessen werden gestellt. Muss man sich erinnern oder darf man die eigene Vergangenheit vergessen? Wie verändert sich die eigene Identität, wenn man in jungen Jahren aus der gewohnten Umgebung gerissen wird und die Familie Opfer schrecklicher Gräueltaten wird?
Die Schicksale der annoncierten Kinder und ihrer Familien haben mich noch lange nach dem Lesen des Buches nicht losgelassen und aufgewühlt. Robert, George, die beiden Gertrudes, Alice, Siegfried, Paula und Manfred und Lisbeth konnten zwar auf unterschiedliche Weise dem Tod entkommen, den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung jedoch nicht. Ihre Geschichten zeugen von dem Verlust des Heimatlandes und der Zugehörigkeit sowie der Beraubung ihrer Kindheit. George Mandler, eines der Kinder, berichtet, er habe vor seiner Flucht einen Teil seiner selbst zurück gelassen. Die Pflegemutter Robert Borgers, bei der er in Großbritannien zunächst unterkommt, erklärt, dass die Pfeife des Wasserkessels Robert lange Zeit an die SA und die Hitlerjungen mit ihren Trillerpfeifen erinnert habe. Als sie von Roberts Selbstmord erfährt, bezeichnet sie ihn als ein spätes Opfer Adolf Hitlers.
Besonders erschüttert hat mich, dass die Kinder in jungen Jahren nicht nur von ihren Familien und ihrer Heimat getrennt wurden und mit der Sorge um ihre teils zurückgebliebenen Familien leben mussten, sondern zeitgleich insbesondere als Dienstmädchen teilweise Ausbeutung und mangelndem Verständnis ausgesetzt waren. Einige Kinder mussten sich zudem auf sich allein gestellt um Stellenangebote für ihre Eltern im Ausland bemühen.
Trotz all dem, erklären die Überlebenden, dass sie sich nicht als Opfer haben sehen wollen, da sie, anders als die Kinder in den Lagern, nie Hunger haben leiden müssen oder Kälte haben ertragen müssen. Dennoch lebten sie mit dem Gewicht des Verlustes, dem Empfinden der Unwürdigkeit oder gar der Schuld des Überlebens.
Ich habe sehr lange zum Lesen dieses Buches gebraucht, da ich es immer wieder aus der Hand legen musste, um das Gelesene zu reflektieren oder darüber mit meinen Mitmenschen zu sprechen. Obwohl das Buch den historischen Hintergrund kurz skizziert, habe ich mich während des Lesens noch weiter mit der Geschichte Österreichs auseinandergesetzt, da Vieles für mich noch unbekannt war. Auch, dass viele Jüdinnen und Juden nach Shanghai geflüchtet sind und nach Einmarsch der Japaner dort im Shanghai Ghetto leben mussten, wusste ich zuvor nicht. Ich empfehle, sich mit diesem Aspekt der Geschichte sowie der Rolle Feng Shan Hos genauer auseinanderzusetzen, da sie wahnsinnig spannend ist!
Auch, wenn die Thematik sehr bedrückend ist, gebe ich Borger recht, der im Epilog schreibt, dass die Geschichten von Überlebenden geschrieben werden und die kollektiven Erinnerungen von Holocaust und Krieg, deshalb auch "eine Spur Optimismus" aufweisen. Statt einer Opferperspektive, wird die des Überlebenden gewählt und werden diejenigen in den Fokus gerückt, die durch Menschlichkeit Leben retteten.
Alles in allem: eine absolute Leseempfehlung!
Journalist Julian Borger, Leiter des Außenpolitikressorts der Zeitung „The Guardian“ widmet sich in „Suche liebevollen Menschen“ den Schicksalen von österreichischen jüdischen Kindern, die den Holocaust überlebten. Anlass ist die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, konkreter mit der Geschichte seines Vaters, Robert Borger. Im Rahmen einer Recherche stößt Borger auf eine Annonce im „Manchester Guardian“ und erschrickt, als er den Namen seines Vaters, Robert Borger, in dieser liest. Zeitlich befinden wir uns kurz nach der Annexion Österreichs durch das Hitler-Regime. Bereits 1933 führte Engelbert Dollfuß gemeinsam mit Justizminister Kurt Schuschnigg einen Staatstreich durch, der die Lahmlegung des Parlaments sowie die Abschaffung des Rechtsstaates zur Konsequenz hatte. Nach dem Tod Dollfußes gelang Schuschnigg als neuer Kanzler an die Macht und wurde neuer Führer der „vaterländischen Front“. Die Kanzlerdiktatur geriet zunehmend ins Wanken, da Mussolini einen Ausgleich Österreichs mit dem deutschen Reich forderte. 1936 schloss Österreich ein Abkommen mit Hitler, in dem dieser Österreich volle Souveränität garantierte, im Gegenzug stand es den Nationalsozialisten zu, führende Positionen in österreichischen Institutionen zu besetzen. Immer mehr Österreicher bekannten sich offen zum Nationalsozialismus. Zwei Jahre später kam es zur Unterzeichnung des sogenannten Berchtesgadener Abkommens, welches Schuschnigg aufgrund der Sorge vor einem Militärschlag Hitlers unterzeichnete. Seine geplante Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit sollte nie stattfinden, da Hitler Schuschnigg mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht drohte, was schließlich zu Schuschniggs Rücktritt führte. Entgegen allen Versprechungen folgte am 12. März 1938 der Einmarsch der Wehrmacht in Österreich.
Um den Gräueltaten des Regimes zu entgehen, versuchten viele Familien, ihre Kinder ins Ausland zu vermitteln. Die Lebenswege dieser Kinder hat Julian Borger aufwendig recherchiert und mithilfe von Archivmaterial sowie Befragungen von Nachfahren und Vertrauten der Kinder rekonstruiert. Robert Borger wurde aufgrund des „Anschlusses“ Österreichs an das „Deutsche Reich“ beispielsweise an eine Pflegefamilie in Großbritannien vermittelt. Das Gesuch seiner Eltern lautete: „I seek a kind person who will educate my intelligent boy, aged 11, Viennesse of good family.” Aus der Recherche zu diesem Einzelschicksal wird eine Suche nach den Kindern aus den weiteren Inseraten des Manchester Guardian. Fragen rund um die Themen Erinnern und vergessen werden gestellt. Muss man sich erinnern oder darf man die eigene Vergangenheit vergessen? Wie verändert sich die eigene Identität, wenn man in jungen Jahren aus der gewohnten Umgebung gerissen wird und die Familie Opfer schrecklicher Gräueltaten wird?
Die Schicksale der annoncierten Kinder und ihrer Familien haben mich noch lange nach dem Lesen des Buches nicht losgelassen und aufgewühlt. Robert, George, die beiden Gertrudes, Alice, Siegfried, Paula und Manfred und Lisbeth konnten zwar auf unterschiedliche Weise dem Tod entkommen, den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung jedoch nicht. Ihre Geschichten zeugen von dem Verlust des Heimatlandes und der Zugehörigkeit sowie der Beraubung ihrer Kindheit. George Mandler, eines der Kinder, berichtet, er habe vor seiner Flucht einen Teil seiner selbst zurück gelassen. Die Pflegemutter Robert Borgers, bei der er in Großbritannien zunächst unterkommt, erklärt, dass die Pfeife des Wasserkessels Robert lange Zeit an die SA und die Hitlerjungen mit ihren Trillerpfeifen erinnert habe. Als sie von Roberts Selbstmord erfährt, bezeichnet sie ihn als ein spätes Opfer Adolf Hitlers.
Besonders erschüttert hat mich, dass die Kinder in jungen Jahren nicht nur von ihren Familien und ihrer Heimat getrennt wurden und mit der Sorge um ihre teils zurückgebliebenen Familien leben mussten, sondern zeitgleich insbesondere als Dienstmädchen teilweise Ausbeutung und mangelndem Verständnis ausgesetzt waren. Einige Kinder mussten sich zudem auf sich allein gestellt um Stellenangebote für ihre Eltern im Ausland bemühen.
Trotz all dem, erklären die Überlebenden, dass sie sich nicht als Opfer haben sehen wollen, da sie, anders als die Kinder in den Lagern, nie Hunger haben leiden müssen oder Kälte haben ertragen müssen. Dennoch lebten sie mit dem Gewicht des Verlustes, dem Empfinden der Unwürdigkeit oder gar der Schuld des Überlebens.
Ich habe sehr lange zum Lesen dieses Buches gebraucht, da ich es immer wieder aus der Hand legen musste, um das Gelesene zu reflektieren oder darüber mit meinen Mitmenschen zu sprechen. Obwohl das Buch den historischen Hintergrund kurz skizziert, habe ich mich während des Lesens noch weiter mit der Geschichte Österreichs auseinandergesetzt, da Vieles für mich noch unbekannt war. Auch, dass viele Jüdinnen und Juden nach Shanghai geflüchtet sind und nach Einmarsch der Japaner dort im Shanghai Ghetto leben mussten, wusste ich zuvor nicht. Ich empfehle, sich mit diesem Aspekt der Geschichte sowie der Rolle Feng Shan Hos genauer auseinanderzusetzen, da sie wahnsinnig spannend ist!
Auch, wenn die Thematik sehr bedrückend ist, gebe ich Borger recht, der im Epilog schreibt, dass die Geschichten von Überlebenden geschrieben werden und die kollektiven Erinnerungen von Holocaust und Krieg, deshalb auch "eine Spur Optimismus" aufweisen. Statt einer Opferperspektive, wird die des Überlebenden gewählt und werden diejenigen in den Fokus gerückt, die durch Menschlichkeit Leben retteten.
Alles in allem: eine absolute Leseempfehlung!